Freundlichkeit

von Dirk Ryssel

Diesen Monat habe ich den Roman „Wunder“ von Raquel J. Palacio gelesen. Für Diejenigen, die das soeben verfilmte Buch nicht kennen sollten: Es geht darin um einen 12-jährigen Jungen, der von seinen Mitschülern gemobbt wird, weil sein Gesicht durch einen angeborenen Gen-Defekt deformiert ist. Als er sich am Ende des Schuljahrs den Respekt der gesamten Schule erworben hat, hält der Schulleiter eine gefühlvolle Rede, in der er an die Maxime der Freundlichkeit appelliert und jeden Schüler bittet, in Zukunft „freundlicher als notwendig“ zu sein. Ein Leitspruch, dem ich mich selbst verpflichtet sehe und den ich gerne an meinen Sohn weitergebe.
Oder sollte ich besser sagen, weitergäbe? In Wien, Paris oder London mag man mit Freundlichkeit sicher überwiegend reüssieren – im rauen Berlin ist das so eine Sache…

Kurz nach dem Ende der Sommerferien bat ich freundlich einen Hundehalter, die Notdurft seines Tieres direkt vor dem Schuleingang zu entfernen. Er antwortete mir – weniger freundlich -, dass ich mich verpissen solle oder ob ich eins in die Fresse haben wolle. Ich verneinte – immer noch freundlich. Doch auf dem Heimweg fühlte ich mich nicht nur um mindestens zehn Zentimeter geschrumpft, sondern musste auch an jenes andere Zitat aus einem Film, an dessen Titel ich mich nicht erinnere, denken: „Du kommst mit freundlichen Worten und einer Waffe weiter als nur mit freundlichen Worten!“

Eine ähnliche Situation erlebte ich vor ein paar Monaten, als ich auf dem Parkplatz meines Supermarktes einen Handwerker freundlich bat, den Motor seines Klein-LKWs auszumachen. Die Stickoxide an dieser Straße sind ohnehin schon dauerhaft über dem Grenzwert. Seine Antwort war in etwa mit der des Hundebesitzers kompatibel.

Als ich kurz nach Neujahr drei Teenager freundlich darauf hinwies, dass das Entzünden von Feuerwerkskörpern außerhalb Silvesters nicht erlaubt sei und dass ihre Eltern einen Riesenärger bekämen, sollten sie von der Polizei erwischt werden, rannten sie mittelfingerzeigend davon und donnerten mir höchstfreundlich einen Böller vor die Füße.

Freundlichkeit scheint als Schwäche ausgelegt zu werden. Jahrelang habe ich bei Telefonverträgen und Versicherungen sowie bei Kollegen und Freunden draufgezahlt, weil ich zu freundlich war, regelmäßig zu kündigen oder darauf hinzuweisen, dass ich schon beim letzten Mal die Zeche übernommen habe. Und die Zeugen Jehovas klingen regelmäßig bei uns, weil ich es nicht hinbekomme, diese stets freundlichen Glaubenswerber unwirsch zu behandeln, damit sie mich endlich als potenziellen Konvertiten von ihrer Liste streichen. Nach wie vor verkrampfen sich meine Finger, wenn ich in Zahlungserinnerungen unfreundliche Worte wie „umgehend“ und „unverzüglich“ in die Tastatur hacken will. Ich könnte jetzt noch über das Trinkgeld in Restaurants, in denen man mit dem Essen nicht zufrieden war, schreiben, aber das führte zu weit.

Letzte Woche sprach mich auf dem Sportplatz ein Hilfsarbeiter des Gartenbauamtes auf eine Art und Weise an, als ob wir zwei alte Bekannte wären. Ob ich regelmäßig jogge? Wie weit? Ob ich immer alleine oder auch im Team laufe usw. usf.? Ich beantwortete alle seine Fragen sehr freundlich, was er zum Anlass nahm, mir von seiner wenigen Zeit für Sport zu berichten: dass er neulich Abend auf der Anhöhe neben der Arena trainiert habe, es aber nicht öfter als einmal pro Woche schaffe, sich aufzuraffen. Dass er noch in anderen Parks arbeite usw. usf.
Da mir kalt wurde, konnte ich ihm klar machen, mich wieder bewegen zu müssen, doch offenbar merkte er, dass das nur eine Ausrede war, denn ich hatte das Gefühl, er beobachtete jeden Schritt und Tritt, den ich machte.

Sofort beschlich mich eine irrationale Angst, mit dem – in meinen Augen – übertrieben freundlichen, ja redseligen Gartenbau-Mitarbeiter könne etwas nicht stimmen: Warum interessiert er sich für mich? Wie kann ich ihm ausweichen? Was mache ich, wenn er mir folgt, sobald ich den Sportplatz verlasse? Er darf nicht herausfinden, wo ich wohne. Vielleicht lauert er mir dort beim nächsten Mal auf. Ich muss versuchen, ihn irgendwie abzuschütteln, ohne dass er es merkt und deshalb wütend auf mich wird.

Zur Abschreckung zwang ich mich zu ein paar Klimmzügen mehr, nur um ihm zu verdeutlichen, kein Leichtgewicht, sondern ein potenzieller Gegner auf Augenhöhe zu sein. In meinem Kopf hatten jetzt Szenarien aus US-Thrillern freien Lauf: Ich dachte an jene ungeliebten Stalker, die nette, bürgerliche Kleinfamilien abpassten, zu ihnen freundschaftlichen Kontakt suchten, jedoch höflich, wenn auch bestimmt abgewiesen wurden. Die sich in ihrer Einsamkeit auf jene Familien fixierten. Wie sich ihre unbefriedigte Sehnsucht und Liebe in Wut und Hass umwandelte. Wie sie die Familien zunächst bedrohten, bald schon zu Gewalt neigten und die Ehefrauen überfielen und vergewaltigten. Wie sie dann die Kinder entführten und quälten. Und wie sie den am Ende zu einer martialischen Bestie mutierten Familienvater anwimmerten: „Warum konntest du nicht einfach freundlich zu mir sein?!“

Ein über den gesamten Sportplatz ertönendes „Tschüss, einen schönen Tag noch!“ des Gartenbauers riss mich aus meinen paranoiden Gedanken. Vielleicht hatte er dasselbe Buch wie ich gelesen und wollte einfach nur ein bisschen freundlicher als notwendig sein.