Digi-Fotos

von Dirk Ryssel

Marlene Dietrich soll mal gesagt haben, sie sei totfotografiert worden: Vermutlich hat sie den Satz auf Englisch gesagt, denn dadurch entsteht erst die doppelte Bedeutung des Ausdrucks „to shoot“, den man für Fotos und Film ebenso wie für Bleikugeln benutzt. Würde sie noch leben, müsste sie denken, es sei der universale Massenselbstmord ausgebrochen. Denn bereits jeder Teenager steht heute in harter Konkurrenz mit der Schauspiel-Ikone  – es fragt sich nur, ob die Qualität der Bilder auch nur annährend vergleichbar wäre. Aber was soll’s: In ein paar Jahren hat jede(r) Dreißigjährige mehr Abbildungen von sich, als sämtliche Studio- und Pressefotografen der Welt von der Jahrhundert-Diva schießen konnten.

Heutzutage wird nicht mehr aussortiert, das kostet ja zu viel Zeit, Konzentration und Entscheidungswillen, sondern nur noch ausgeliefert: Von der letzten Klassenfahrt unseres Sohnes erhielten wir täglich 140 Fotos über WhatsApp. Im Schnitt entdeckten wir ihn auf drei Motiven: Zweimal von hinten, einmal von schräg oben.
Am Ende des letzten Schuljahrs bekamen wir sogar einen Zugang zur Cloud, wo sämtliche Fotos, die von den Erzieherinnen und Eltern während der gesamten Zeit aufgenommen wurden, heruntergeladen werden konnten.  Es waren mehr als 4.000 Aufnahmen. Kostet ja nichts – nur eben Lebenszeit. Aber vielleicht war das ja schon immer so.

Mein Bruder jammerte neulich, er habe noch ca. 3.000 Dias, die er noch scannen müsse, er wisse aber nicht, wann er die Zeit dazu finden solle. Ich fragte ihn, wofür bzw. für wen? Er erwiderte, dass da vielleicht noch supertolle Aufnahmen dabei sein könnten, von den Konzerten, auf denen er früher war. „Könnten?“, fragte ich. So genau wisse er das auch nicht, er habe sie schließlich 35 Jahre nicht durchgesehen. Vielleicht sei es besser, so versuchte ich ihn zu beruhigen, er behalte die Konzerte so in Erinnerung wie bisher und werfe die Dias ungesehen in den Müll. Er fand das nicht witzig – dabei meinte ich es gar nicht als Witz.

Digi-Fotos haben den Charakter von Polaroids übernommen – nur waren diese nur begrenzt haltbar. Und Fotos, auf denen man in die Kamera lacht, möglichst noch vor einem berühmten Gebäude fand man damals fürchterlich gestellt. So etwas machten nur die Japaner oder man parodierte damit eben jene fernöstlichen Touristen. Heute scheint es normal, alles andere eher unnormal zu sein, z.B., wenn ich mich weigere, mittels eine Teleskopstange fotografiert zu werden.

Diese Woche wurde meine Frau zur Kopfhaarrasur-Party ihrer an Krebs erkrankten Freundin eingeladen. Natürlich ist sie nicht hingegangen, aber sie konnte auch nicht mehr verhindern, dass sich ihre Freundin dieser Tortur aussetzen musste. Initiatorin war deren Tochter, die auf diese Weise ihre eigenen Ängste anstatt die der Mutter verdrängen wollte. Indem man eben aus einer intimen, schmerzvollen Situation ein feuchtfröhliches, lustiges Event macht.

Über WhatsApp bekam meine Frau 164 Fotos, selbstverständlich beginnend mit den Nahaufnahmen der Champagner-Flaschen, dann mit Details vom Buffet und natürlich mit Selfies von jedem einzelnen Teilnehmer, wie er oder sie fröhlich mit der Fotografin in die Kamera postet…, äh, prostet. Nicht zu vergessen die obligatorischen Vorher- / Nachher-Aufnahmen mit der gequält lächelnden Freundin meine Frau. Weil das ja alles so eine lustige Veranstaltung ist.

Mir selbst erging es nicht viel anders als meiner Frau, als mir kürzlich ein Freund ein Selfie am Grab unseres gemeinsamen Freundes schickte. „Am“ nicht „vom“! Abgebildet waren nämlich nicht das Grab, sondern er selbst und die Schwester unseres so plötzlich verstorbenen Freundes. Beide adrett gekleidet und perfekt frisiert, strahlten sie in die Kamera. Sie saßen auf einer Bank, die sich wohl in unmittelbarer Nähe des Grabes befand, wie ich später erfuhr. Unter dem Bild stand nur: Alicia und ich an Matthias‘ Grab. Von dem Grab selbst, dem vermeintlichen Blumenschmuck oder den Kondolenzbeglaubigungen bekam ich kein Bild.

Etwas enttäuscht schrieb ich ihm zurück, dass ich mir etwas mehr Pietät gewünscht hätte, als ein eitles Selfie von ihm zu bekommen. Ein paar Worte, wie es ihm und den Angehörigen einen Monat nach der Beerdigung unseres Freundes ergangen sei, hätte ich passender gefunden. Offenbar habe ich ihn mit diesem Wunsch etwas überfordert, denn auf diese Mail bekam ich keine Antwort.

Vielleicht bin ich ein wenig altmodisch und schätze den Wert der heutigen Fotografie zu hoch ein. Fotos sind zu Fastfood geworden: Fressen, dabei ein wenig Genuss verspüren, aber möglichst schnell wieder vergessen, damit ja kein Nachgeschmack übrigbleibt. Fotos sind nur dafür da, damit man nichts (be-)schreiben muss, sie dienen der Formulierungsfaulheit im digitalen Zeitalter. Ein Bild sagt ja angeblich mehr als tausend Worte: Hui, was für eine verbale Rationalisierung.

Kein Mensch plant, sich Jahre später die Fotos vom Weihnachtsessen seiner Firma oder die unzähligen Selfies vor dem immer zeitlosen mediterranen resp. monumentalen Hintergrund mit der eigenen, sukzessiv älter werdenden Hackfresse anzusehen.

Es bleibt wirklich nur zu hoffen, dass es den meisten Menschen irgendwann so geht wie meinem Bruder mit seinen 3.000 Dias, also ungefähr der Menge, die heutzutage während eines Sommerurlaubs verschossen wird. Wer soll schon die Zeit haben, diesen digitalen Datenmüll zu archivieren, wenn er gleichzeitig immer wieder neue Motive und Gelegenheiten entdeckt, die er fotografisch festhalten will?

Also, z.B.: „Ich beim Erstellen meines 3.400sten Fotoalbums…“