Quereinsteiger

von Dirk Ryssel

Wenn ich mir etwas von der Politik wünschen könnte, dann wäre es die Einführung eines Elternführerscheins. Für jeden Scheiß braucht man hierzulande eine Berechtigung, ein Zertifikat oder eine offizielle Genehmigung– sei es für den Besitz von Waffen, was natürlich richtig ist, für das Führen eines Kraftfahrzeugs oder eines Motorboots, ja selbst für das Betätigen einer Motorsäge muss man eine Prüfung absolvieren, was für die Extremitäten des Hobbygärtners und  seine zur Hinrichtung verurteilten Gehölze durchaus von Vorteil sein kann. Selbst Kinder müssen in der vierten Klasse eine theoretische und praktische Verkehrsprüfung ablegen, um einen Fahrradführerschein zu erhalten. Aber nach wie vor dürfen sich hemmungslos vermehrende Homo Sapiens aus Unwissenheit, Ignoranz und pädagogischer Überforderung an ihrer Erbfolge vergehen, mit der Folge, dass sich später Armeen von Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiatern sowie ungefähr doppelt so vielen Wunderheiler, Gurus und andere Scharlatane an diesen Erziehungsverbrechen abarbeiten müssen.

Da kommt es einem wie ein schlechter Scherz oder blanker Sarkasmus vor, wenn die deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft mit „großer Beunruhigung“ vor den „unabsehbaren Folgen“ des verstärkten Quereinstiegs im Grundschulbereich warnt. Und wer warnt bitteschön vor den seit Jahrtausenden währenden Konsequenzen von unqualifizierten Eltern, die IMMER nur Quereinsteiger in punkto Kindererziehung sind? Der Schaden, den Eltern durch den Missbrauch an ihren Kindern anrichten, und damit meine ich nicht einmal den sexuellen, sondern den viel gängigeren emotionalen oder den Rollenmissbrauch, wirkt sich auf das ganze Leben ihres Nachwuchses aus.

Im Grunde müssten alle Eltern vorab zum Psychotherapeuten geschickt werden, um erst einmal zu ergründen, warum sie sich überhaupt reproduzieren wollen: Da ist z.B. diese Mutter mit ihrer knapp 10-Jährigen Tochter, die ich mindestens dreimal die Woche auf dem Sportplatz antreffe. Nicht nur, dass ich mich frage, wann das Kind eigentlich mal in die Schule geht, denn ich bin in letzter Zeit meistens sehr spät dran, sondern ich mache mir auch ernsthaft Sorgen um das Wohlergehen dieses Zöglings, in das die Mutter offenbar eigene, nicht realisierte Träume überträgt. Wie sonst ist es zu erklären, dass die erst vor wenigen Jahren dem Krabbelalter entwachsene Jungsportlerin zunächst mehr als zwanzig Runden à 400 m wetzen muss, um sich anschließend noch mit 270 Seilsprüngen zu profilieren. Und als sie dann nach einem Schluck Wasser bei der auf dem Rasen gelangweilt lesenden Mutter bettelt, entgegnet diese ihr: „Nach weiteren 270!“ Dagegen war ja die Ausbildung von Spartacus und seinen Gladiatoren-Kameraden ein Spaziergang.

Kürzlich las ich in einem Buch, dass Kinder bis zum Alter von 5 Jahren rund 40.000 Mal von ihren Eltern ermahnt, kritisiert und ausgeschimpft werden. Mit dem Ergebnis, dass sie sich im Erwachsenenalter noch ständig Selbstvorwürfe machen und sich für minderwertig halten, wenn sie in irgendeiner Sache einen Fehler begehen. Wären sie in ihrer Kindheit nicht von schlecht gelaunten, gestressten, mit sich selbst unzufriedenen Dilettanten, sondern von ausgebildeten Pädagogen mit elterlicher Fürsorge, empathischem Einfühlungsvermögen und uneigennütziger Liebe erzogen worden, ließen sich vermutlich Milliarden an Folgekosten für ärztliche und pharmakologische Betreuung einsparen.

Mehr denn je werden gerade heute, da man viel mehr über projizierte Träume, falschen Ehrgeiz und Individualförderung der Heranwachsenden weiß oder wissen könnte, Kinder aus den sogenannten bürgerlichen Haushalten mit anderthalb Jahren zur musikalischen Früherziehung geschickt, ja es wird sogar empfohlen, dem Embryo im Bauch bereits Mozart vorzududeln, damit selbiger gleich nach dem Durchtrennen der Nabelschnur seine erste Sinfonie zu Papier bringt. Und sobald der Dreijährige den ersten Ball kickt, wird ihm sofort ein Platz im Nachwuchsförderprogramm des Fußballvereins reserviert, damit er spätestens mit 12 der nächste Ronaldo wird. Einer der besten Freunde meines zehnjährigen Sohns hat nicht einmal mehr die Zeit gefunden, sich zum Abschied von der Grundschule in dessen Freunde-Buch einzutragen. Als Grund gab er an, Montag und Freitag zum Fußball zu müssen, am Dienstag Theaterprobe, Mittwoch Chor, Donnerstag Klavierunterricht und Samstag ein Punktspiel zu haben; Sonntagvormittag besuchten sie immer die Großeltern, nachmittags sei er mit seinen Eltern unterwegs – vermutlich im Museum oder bei der GPS-Schatzsuche. Über Michael Jacksons Vater hat sich die halbe Welt aufgeregt, als herauskam, wie er seine Kinder misshandelt hat, um sie auf Erfolgskurs zu trimmen, aber sind wir Bildungsbürgereltern nicht einfach nur die Light-Version dieses illustren Despoten?  Und solche Eltern mokieren sich dann über Quereinsteiger in der Grundschule! Wann hat das eigentlich angefangen, dass Kinder nicht mehr Kinder sein durften? Ach was, wahrscheinlich war das schon immer so, nur dass früher die Kinder ins Bergwerk geschickt wurden und heute zur Talentschmiede.

Andererseits: Michael Jacksons Vermögen betrug schätzungsweise mehr als 1 Milliarde Dollar! Und mein Sohn hat heute wieder nicht Gitarre geübt! Ich werd‘ den jetzt mal zusammenscheißen, sonst wird nie was aus ihm! Wehe, der blamiert uns beim Schulkonzert im Oktober!