Gesunde Ernährung

von Dirk Ryssel

Am Wochenende kam unsere Nichte uns mit ihrem einjährigen Sohn besuchen. Der Kleine ist wirklich entzückend, lacht viel, lässt sich schnell begeistern und ist voller Tatendrang. Als erstes entdeckte er die Fernbedienung des Radios, die ihn mehr faszinierte als jedes Spielzeug, das wir ihm aus dem Sammelsurium unseres Sohnes anboten.

Dann sollte es Kaffee und Kuchen geben, meine Frau hatte dafür eine Erdbeertorte gebacken – natürlich aus Dinkelmehl und Rohrohrzucker und selbstverständlich alles Bio, denn wir sind ja auch nicht von vorgestern. Aber dann nahm unsere Nichte ihren Kleinen auf den Schoß und packte, nein, nicht ihre Brust, dieses Thema lasse ich heute aus, nein, sie packte eine Tupper-Box auf den Tisch und entnahm dieser eine braune Masse, die mich arg an den Komposthaufen meiner Schwiegereltern erinnerte: Ein unförmiges Gebilde, in dem ich vergammelte Bananenstücke in einem dunklen, feuchten Teig identifizierte. Sofort erinnerte ich mich an ein Video, das mein Freund Chris vor vielen Jahren auf MTV gesehen hatte. Dort briet irgendein selbsternannter Komiker in der Pfanne sein gerade Erbrochenes und aß es anschließend… ein zweites Ma(h)l.

„Was ist das?“, fragte ich sie neugierig. „Och, das sind überreife Bananen, die ich neulich vergünstigt im Bio-Markt bekommen habe, mit Chiasamen. Ganz ohne Zucker, denn ich will nicht, dass er jetzt schon Zucker zu sich nimmt.“ Ich sah meinen Sohn, der mir gegenüber mit großem Appetit den Erdbeerkuchen verschlang, etwas hilflos an, worauf er nur eine Geste aus der TV-Serie Alf zitierte und sich hustend und würgend den Finger in den Hals steckte. Meine Frau probierte vorsichtig, ließ dann aber unauffällig den Löffel mit dem Rest des Breikumpens unter dem Teller verschwinden. Armer Junge, dachte ich, während wir köstlichen Erdbeerkuchen in uns reinschaufeln, muss er den Biomüll entsorgen. Dem Himmel sei Dank: Es blieb alles in ihm drin.

Ich sollte vielleicht erwähnen, dass meine Nichte die letzten 25 Jahre eine strenge Diät gehalten hat: Die Schokoladen-Und-Sonstige-Süßigkeiten-Diät! Wann immer irgendwo etwas Süßes herumstand, vor meiner Nichte war nichts sicher. Sie konnte ohne Weiteres drei Stückchen Kuchen und zehn Windbeutel vertilgen, und wenn man ihr dann noch ein Eis und Pralinen anbot, sagte sie nicht nein. Nun ist es nicht etwa so, dass es ihrer Figur schadete – im Gegenteil, sie ist gertenschlank, aber wie sie selbst immer betonte: Sie war süchtig nach Süßigkeiten.

Nun plötzlich, seitdem ihr Kind auf der Welt ist, der völlige Paradigmen-Wechsel: Mit einem Mal erzählt sie mir, dass sie gelesen habe, wie schädlich Zucker sei. Und wie viel Zucker wir bereits bei unserem täglichen Konsum normaler Lebensmittel zu uns nähmen. Guten Morgen, dachte ich nur, bestätigte aber freundlich ihre neuen Erkenntnisse.

Als wir nachmittags auf den Spielplatz gingen, sah ich eine junge Mutter, die mit ihrem Sohn auf einer Decke Picknick machte: Es gab natürlich nicht etwa Kuchen und Kekse, sondern Studentenfutter und Rohkost-Salat. Zum Abendessen bekommt der Junge sicher Bio-Grünkern-Brätlinge auf Vollkornbrot mit Kresse. Mein Großneffe bekam zum zweiten Vesper ungesüßten Haferbrei in Wasser aufgelöst. Da ging es ja Oliver Twist geradezu königlich.

Was hat man diesen Müttern eigentlich angetan, dass sie ihre Brut derart bestrafen? Ist das die Rache für die Geburtswehen? Oder muss ihre Erbfolge für die Ernährungssünden ihrer eigenen Kindheit herhalten? Wieso meint eigentlich jede Mittelstandsmutter, dass alles, was sie selbst genossen und geliebt hat, schlecht für ihr eigenes Kind sei? Dass ihre eigene, bisherige Ernährung aus lauter Giften bestand und sie krank machte?

Ich könnte jetzt noch auf die Vorliebe zu Holz- und die gleichzeitige Verschmähung von Plastikspielzeug, die Bevorzugung von wieder verwendbaren Windeln und die Zuwendung zu alternativer Globuli-Medizin eingehen, denn natürlich lässt meine Nichte ihren Sohn nicht impfen, aber das würde zu sehr ausufern. Dennoch fällt mir auf, dass es offenbar eine Art konzeptualisierte Weltanschauung gibt, die die Frau der bürgerlichen Mitte sozusagen mit dem Milcheinschuss einverleibt bekommt. Gibt es unter den frischen Kindbetterinnen vielleicht ein geheimes Buch, eine Art Lehrfibel mit den vermeintlichen Maximen des gesunden Lebens, die von Hand zu Hand weitergereicht wird?

Ich habe überhaupt nichts gegen überzeugte Homöopathen und praktizierende Ökologen, die sich das Schrot ihres Müslis am Vortag selbst mahlen und einweichen, um es zum Frühstück zu verzehren.  Aber ich wundere mich, wo bei manchen Akademikermüttern der Schalter ist, der während der Brutzeit umgelegt wird und der sie zu Ernährungs- und Erziehungsdiktatorinnen werden lässt. Da sehne ich mich manchmal in jene Zeit zurück, in der sich Kinder jenseits der Prekariatsherkunft noch über Geburtstagspartys bei einer berühmten Fastfood-Kette freuen durften – mit einem Auftritt des heute eher gruselig wirkenden Clowns, Ronald McDonald.