Schuhe in der Wohnung

von Dirk Ryssel

Neuerdings bin ich etwas verunsichert, wenn ich jemanden im Westen, also, im Westteil der Stadt oder in den alten Bundesländern besuche: Schuhe aus oder Schuhe an, wenn man die Schwelle zur Wohnung übertritt? Im Osten gibt es eine klare Konvention: Schuhe aus. Im Westen kommt es darauf an, ob diejenigen kleine Kinder haben oder nicht. Haben sie welche, zieht man natürlich die Schuhe unaufgefordert aus – am besten noch vor der Wohnungs- oder Haustür. Haben sie keinen Nachwuchs, behält man die Galoschen solange an, bis man aufgefordert wird, sie auszuziehen. Im Osten hingegen wird das Schuhwerk generell ausgezogen. Fragt man im Westen den Gastgeber, ob man die Schuhe ausziehen soll, wird man verunsichert angestarrt.

Als ich im letzten Sommer, der bekanntlich arg verregnet war, einen älteren Herrn in Lichterfelde besuchte, erlebte ich genau diesen Moment der peinlichen Irritation: Meine Schuhe waren nass, der Parkettboden in seinem Haus schien mir frisch gewischt zu sein, weshalb ich vorschlug, meine Schuhe auszuziehen. Seine Antwort war etwas unbeholfen: „Wenn Sie es unbedingt möchten?“ Er selbst trug übrigens Schuhe – ob Haus- oder Straßenschuhe war nicht zu erkennen. Ich habe verzichtet zu fragen.

Ich kenne Singles im Westen, die laufen in der eigenen Wohnung in Straßenschuhen herum und ziehen sie nur zum Schlafengehen aus. Manch einer wohl nicht einmal dann. Einer meiner ehemaligen Studienfreunde ekelte sich so sehr vor nackten Füßen, dass ich ihm zuliebe, wenn er zu Besuch kam, selbst im Hochsommer bei 35 Grad Hausschuhe trug, damit er mir nicht angewidert dauernd auf die Zehen starrte. Wenn ich ihn ärgern wollte, musste ich ihn nur an unseren gemeinsamen Professor erinnern, der fast ganzjährig seine Sandalen ohne Strümpfe trug und sich im Seminar von Zeit zu Zeit an den Füßen kraulte. Okay, beides sind vielleicht Extrembeispiele.

Aber schon oft habe ich mich gefragt, woran der Unterschied der Gewohnheiten liegen mag? Sind die Straßen und Gehwege im Westen vielleicht sauberer als im Osten? In Lichterfelde und Dahlem mag das ja zutreffen, aber sind Kreuzberg und Neukölln tatsächlich cleaner als Pankow und Karlshorst? In Skandinavien handhabt man es übrigens wie im Osten: Hier ziehen selbst Handwerker vor der Wohnung, in der sie zu tun haben, die Schuhe aus. In Japan, soweit ich weiß auch. Nun sind diese Länder nicht gerade für ihren Schmutz oder ihre Probleme mit Hundekot bekannt. Daran kann es also nicht liegen – ich vermute sogar, dass man in Italien (schon wegen der Schuhmode) eher die Schuhe anbehält, wenn man eine fremde Wohnung betritt.

Möglicherweise hält man sich im Westen mit dem Anlassen der Schuhe die Option offen, ohne großes Aufheben wieder gehen zu können – sich, wie man unberechtigterweise sagt, französisch zu verabschieden. Umgekehrt will der Gastgeber im Westen vielleicht nicht, dass man sich bei ihm zu heimisch fühlt, sich bei ihm einnistet. Sind die Ostdeutschen vielleicht gastfreundlicher, offener für (längerfristigen) Besuch? Oder wäscht man sich im Osten nur regelmäßiger die Füße? Vielleicht haben im Osten aber auch mehr Leute die Nase voll als im Westen, sodass ihnen der Fußgeruch ihrer Besucher nicht so sehr auffällt?

Bevor ich mit meiner (ostdeutschen) Frau zusammenkam, gehörte ich ebenfalls zu den fanatischen Schuheanbehaltern. Es gab Partys, zu denen ich nicht ging, weil man in der Wohnung die Schuhe ausziehen und in Strümpfen tanzen musste. Selbst vor dem Geburtsvorbereitungskurs unseres Sohnes habe ich mich gedrückt, weil dort alle in der Runde die Schuhe ausziehen mussten.

Schuhe geben Sicherheit, sind ein Statement, kennzeichnen den Charakter und drücken die Alterszugehörigkeit aus: Man denke an Sneakers, Slipper, Cowboystiefel, Doc Martens oder Budapester. Jeder dieser Schuhe sagt etwas über seinen Träger aus: über sein Modebewusstsein, sein Selbstverständnis, ja, manchmal sogar über seine politische Disposition. Manchmal träume ich, irgendwo in der Stadt unterwegs zu sein und erst dann zu bemerken, dass ich vergessen habe, meine Schuhe anzuziehen. Dass ich barfuß bin. Was wohl Freud dazu sagen würde?

Inzwischen hat mich meine Frau soweit umerzogen, dass ich es als unnormal empfinde, die Schuhe in der Wohnung, also zu Hause oder bei anderen nicht auszuziehen. Im Gegenteil: Angesichts einer seit Jahren bei der Straßenreinigung sparenden Senatsverwaltung, frei herumlaufenden Hunden, deren Besitzer sich immer dann in der entgegengesetzten Richtung umsehen, wenn sich ihre Liebsten auf dem Bürgersteig verewigen, Party-Touristen, die ihren Mageninhalt vom Vortag nicht die U-Bahntreppe heraufschaffen und eines vermutlich klimawandelbedingten Dauerregens bin ich zum militanten Schuhauszieh-Faschisten geworden. Selbst meiner Frau und meinem Sohn verweigere ich gewaltbereit mit dem Akku-Sauger den Zutritt, wenn sie nicht zuvor ihre Botten losgeworden sind.

Vor ein paar Jahren bekam ich Besuch eines West-Freundes, der allerdings seit Jahren in Berlin-Treptow, also im Ostteil der Stadt, wohnt. Auch ihn und seinen fußphobischen Kumpel, den ich oben erwähnte, bat ich wegen unseres Kleinkinds, die Elbkähne auszuziehen. Er hingegen versicherte mir durch Vorzeigen seiner Sohlen, dass seine Stiefel sauber seien. Ich wiederum wies ihn daraufhin, dass sich daran trotzdem Keime befänden und mein Sohn durch die Wohnung krabble, weshalb ich es als unreinlich empfände, wenn er damit im Wohnzimmer herumstampfe. Den stummen, hektischen Wink seines Kumpels, der mir hinter seinem Rücken etwas mitteilen wollte, ignorierte ich. Doch als der Stiefelträger in seinen löchrigen Socken den Raum betrat und sogleich nicht nur die Scheiben beschlugen, sondern auch die mitgebrachten Blumen schlagartig verwelkten und mein Sohn mit einem lautem „Iiiiiiiiiiiiihhhh!“ in sein Kinderzimmer flüchtete, entschied ich mich, einmalig eine Ausnahme zu machen: Manchmal sind Straßenschuhe in der Wohnung – selbst im Osten – weitaus gastgeberfreundlicher und hygienischer.