Sinnvolle Zeitverschwendung

von Dirk Ryssel

Ein guter Freund von mir verbringt Stunden mit FIFA-Spielen an der Playstation und ist dann hinterher oft so wütend, dass er sich selbst ohrfeigt. Er ist Katholik: Die Selbstgeißlung hat dort Tradition. Ein weiterer Freund zieht sich stundenlang Pornos rein, um anschließend festzustellen, dass die Erinnerung an den letzten Sex mit seiner Frau immer noch die geilste Fantasie beim Wichsen ist. Wieder ein anderer Bekannter hat Monate damit verbracht, um sich eine eigene digitale Filmsammlung zu erstellen, die er zunächst auf DVD, dann auf Blu-ray und schließlich auf eine Festplatte brannte: Es sind ein paar tausend Filme geworden, und selbst er musste zugeben, dass er 200 Jahre alt werden müsse, um sie alle zu sehen.

Ich bin selbst jahrelang auf Floh- und Sammlermärkte innerhalb der gesamten Republik und darüber hinaus gefahren, um mir eine Sammlung alter Filmplakate und Kinoaushangfotos aufzubauen; habe sehr viel Zeit damit verbracht, akribisch ellenlange Suchlisten zu schreiben, Fehlnummern abzuhaken und zu aktualisieren. Und wofür? Inzwischen frage ich mich, was ich mit dem ganzen Zeug eigentlich will?

Es ist wohl dem fortschreitenden Alterungsprozess und dem damit einhergehenden Bewusstsein der Endlichkeit des Lebens geschuldet, dass ich mir mehr als noch vor zwanzig Jahren bewusst mache, womit ich meine Zeit verbringe. Um nicht zu sagen: verschwende. Ich bin diesbezüglich sehr unleidlich, will mich mit bestimmten Bekannten gar nicht mehr treffen, weil ich im Vorfeld schon meine zu wissen, dass ich mich vermutlich langweilen werde und meine Zeit lieber – aus meiner Perspektive – sinnvoll verbringen möchte. Manchmal schiebe ich sogar bestimmte Gedanken beiseite, weil ich selbst diese für eine Vergeudung meiner Lebenszeit bewerte. Selbstverständlich bezieht sich meine Bewertung auch auf sämtliche Freizeittätigkeiten, ja sogar meine alltägliche Arbeit kommt mir oft völlig sinnlos vor.

Dass ich mich damit furchtbar unter Druck setze, ist mir schon klar, aber ich kann momentan nicht anders: Egal, wo ich mich umsehe, ob in der U-Bahn, wo 80 Prozent der Fahrgäste absurde Wischtätigkeiten auf ihren Smartphones vollziehen, ob früher im Fitnessstudio, wo Männer täglich Stunden auf der Hantelbank verbringen, um gegen die Schwerkraft anzupumpen, ja selbst im Hinblick auf die gerade begonnene WM frage ich mich, ob deren Verfolgen nicht eine Verschwendung wertvoller Lebenszeit ist.

Doch mit diesen Überlegungen befinde ich mich im Vergleich zu meinen Bekannten und Freunden deutlich in der Minderheit. Die meisten Menschen verdrängen, dass alles, ja, schlichtweg alles in ihrem Leben nur geliehen ist: Alles, was sie sich gekauft, gebaut oder sonst wie angeeignet haben, ja, selbst ihre Jugend, ihre Schönheit und letztlich ihre gesamte Lebenszeit. Alles müssen wir irgendwann abgeben und sämtliche Tätigkeiten, die unser Bewusstsein und unsere Selbstwahrnehmung für einen Moment ausschalten können wie Playstation, Pornokonsum oder das Sammeln von irgendwelchem Krimskrams dienen nur dazu, diese Tatsache zu verdrängen.

Keine Ahnung: Möglicherweise ist es ja sinnvoll, dass wir ständig sinnlos handeln, anstatt über den vermeintlichen Sinn oder die vermeintliche Sinnlosigkeit nachzudenken. Wer vermag schon zu beurteilen, welche Tätigkeit sinnvoll und welche Lebenszeitverschwendung ist, denn letztlich lässt sich das alles nur im globalen, wenn nicht, nur im universellen Kontext verstehen. Wenn wir immer nur darüber nachdenken, was für unser Leben resp. für unsere Familie resp. für die Gesellschaft resp. für die Welt resp. für das Universum sinnvoll ist oder nicht, werden wir entweder gar nicht mehr handeln oder schlichtweg daran verzweifeln, weil es vermutlich egal ist, was wir tun, weil alles, ob wir handeln oder nicht handeln, ob wir uns die Rübe mit Computerspielen oder Pornos wegschießen, ob wir wertvollen oder wertlosen Müll heranschaffen – irgendeine oder schlichtweg keine Relevanz auf was auch immer hat.

Wenn besagter Freund einen derart sexuellen Überschuss hat, ist es gut, dass er sich bei Pornos einen runterholt, weil er dann nicht so oft seine Frau dazu nötigt, mit ihm Sex zu haben. Denn vermutlich hat sie schlichtweg nicht so häufig das Bedürfnis wie er. Und sicher ist es für seine Ehe besser, er greift sich von Zeit zu Zeit mal selbst an die Nudel, als dass er dafür fremd geht und seine Beziehung aufs Spiel setzt. Und wenn mein anderer Freund Fifa spielt, hat er eingesehen, dass er inzwischen für den Fußballplatz zu alt ist und bricht sich dafür nicht beide Unterarme wie ein anderer meiner Freunde, der meinte, er gäbe immer noch einen guten Libero ab.

Vielleicht war meine Jagd nach Filmplakaten eine Art Antidepressivum, das ich seinerzeit brauchte, um die Einsamkeit zu verdrängen. Hätte ich nicht gesammelt, wäre ich gewiss in Melancholie verfallen. Und würde ich bis heute nicht immer wieder im eBay-Rausch versacken, sondern mir stattdessen meine Hirngewinde ständig mit solchen existenzialistischen Einbahnstraßen verknoten, hätte ich mir wohl längst eine Pumpgun zulegt und entweder meine selbstsüchtige Mutter, jenen Autofahrer, der soeben mit 70 km/h durch meine Tempo-30-Straße rast oder mich selbst in die ewigen Jagdgründe geschickt. Ist doch ohnehin alles egal.

Es ist schon etwas dran am Phänomen des Brotes und der Spiele, die wir offenbar zum Leben brauchen. Das Leben will gelebt werden, wie, warum oder womit auch immer – das scheint der einzige Sinn oder Unsinn von allem zu sein.

Und deshalb werde ich jetzt gleich mal nachsehen, ob mein Lieblingshändler wieder neue Auktionen eingestellt hat oder was es Neues in den Porno-Blogs zu sehen gibt. Und notfalls gibt’s ja noch die WM: Ohne Deutschland hat’s zwar gar keinen Sinn… oder vielleicht gerade…wen interessiert’s…