Freunde

von Dirk Ryssel

Als ich kürzlich bei Facebook nach einem ehemaligen Kollegen, mit dem ich mich gerne vernetzen wollte, suchte, musste ich feststellen, dass dieser bereits 464 Freunde hatte. Ehrlich gesagt habe ich mich angesichts dieser hohen Zahl nicht getraut, ihm zu schreiben. Seine Notwendigkeit, mich als seinen 465. Freund zu rekrutieren, erschien mir verhältnismäßig gering. Ich selbst habe mich innerhalb der letzten drei Monate immerhin zu 15 Freunden empor gearbeitet. Doch wenn ich tief in mich gehe, muss ich zugeben, dass ich höchstens auf 3-4 wirklich enge Freunde komme. Diese sind mir allerdings wichtig, weil sie mich zum Teil mein halbes Leben und länger begleiten, mich geprägt, kritisiert, unterstützt und nicht selten aufgefangen haben. Oftmals weiß ich gar nicht, wie ich das, was ich alles von ihnen empfangen habe, jemals wieder zurückgeben kann. Wenn ich meinem 10-jährigen Sohn nur einen einzigen Rat geben könnte, für den ich ihm allerdings keinen Bauplan mitliefern kann, lautete er:  Versuche möglichst frühzeitig, Freunde zu finden, die dich durch die Höhen und möglichen Tiefen des Lebens begleiten werden.

Um ein bisschen Struktur in meine Argumentation zu bekommen, habe ich gestern ein wenig gegoogelt: Neben ganzen Bibliotheken zur Frage, wie man Freunde gewinnt – selbst die Apotheken-Umschau widmet sich der Thematik unter dem Aspekt der Gesundheitsförderung –, finden sich zunächst allerlei Hobby-, Sport- und Fördervereine für Schulen und Kitas. Unnötig zu erwähnen, dass mir diese nicht gerade bei der Spezifikation des Themas helfen. Bei Wikipedia bekomme ich einen ersten Einblick: Bereits in der Antike wird zwischen Wesens-, Nutzens- und Lustfreundschaften unterschieden. Auf die Letztere will ich hier mal nicht näher eingehen, die ersten beiden finde ich allerdings insofern bemerkenswert, weil sie, wie ich weiter lese, die kulturellen Unterschiede des alten Europas mit dem Einwanderungsland USA offenlegen: Denn während z.B. Deutschland und Frankreich mit Beginn der Romantik die Seelenverwandtschaft zweier Menschen kultivieren und den Briefroman erfinden, gilt man noch heute in den USA als sozial kompetent, wenn man im Umkreis seines Wohn- und Arbeitsfeldes möglichst schnell Kontakte knüpft sowie Freundschaften (von pragmatischem Charakter) schließt. Also eher Freundschaften, die den Beteiligten nützen als nach Wesensgleichheit streben. So erklärt sich wahrscheinlich die Tatsache, dass in den USA reaktionäre Republikaner mit liberalen Demokraten durchaus befreundet sein können. Man stelle sich dasselbe zwischen einem AfDler und einem Sozi vor…

Aber zu welcher Art der Freundschaft soll ich meinem Sohn raten: Der modernen Nutz- oder der romantischen Wesensfreundschaft? Wo doch so vieles heutzutage davon abhängt, z.B. die von vielen Arbeitgebern verlangte Flexibilität des Arbeitsplatzes. Soll ich ihm nach eigenem Vorbild zu festen Wesensfreunden raten, sodass es ihm später schwer fällt, in New York oder Peking zu arbeiten, weil er dann seine hiesigen Freunde nicht mehr treffen kann? Oder soll ich ihn zum oberflächlichen Opportunisten erziehen, der sich die Freunde nach seinen jeweiligen Bedürfnissen sucht? Freunde, denen er allerdings auch nicht allzu viel vertrauen sollte, weil sie sicher ähnlich geprägt sein werden. Und ehe er sich versieht, weiß die Community seiner 464 Facebook-Freunde bereits vor seiner Freundin, dass er sich von ihr trennen will. Oder dass er gerade unter Verstopfung leidet.

Zumal eine Wesens- und Seelenverwandtschaft ja nichts ist, was man durch einen bloßen Klick auf einen vorgefertigten Button erhält oder durch eine Suchmaschine findet: Sie kommt zu einem, oftmals entsteht sie aus einer erst oberflächlichen Interessens- oder gar Leidensgemeinschaft. Aber nur, wenn beide sich einander öffnen, kann sie sich zu einer auf tiefergehende Sympathie und gegenseitige Akzeptanz basierenden Verbindung entwickeln. Und manchmal, wenn man reif genug dafür ist, können sogar die tolerierten Wesensunterschiede eine Quelle der Inspiration und geistigen Weiterentwicklung sein.

Zugegeben, die Chancen für solch eine Verbundenheit sinken proportional zum Alter: zum einen, weil die Freizeit geringer und nach Alltagsnotwendigkeiten organisiert wird, zum anderen, weil Vertrauensbrüche, Loyalitätskonflikte und Opportunismus auf dem Negativkonto der Freundschaftserfahrungen gewachsen sind. Will sagen, je früher sich zwei Menschen finden, je mehr Zeit sie miteinander in jungen Jahren verbracht haben, desto größer ist die Chance, dass sie sich charakterlich nicht völlig entfremden, sondern ihr Leben lang zueinander stehen werden. Die Gründe sind ja offensichtlich: Während durch die gemeinsamen Erfahrungen das gegenseitige Vertrauen wächst, sinkt gleichzeitig die Angst vor Gesichtsverlust. Man muss dem anderen nichts vormachen, hat keine Angst vor Hierarchien, Statusverlust oder Abhängigkeiten.

Ist alles Empathische zwischen langjährigen Freunden also nur eine Projektion, die sich aus beidseitigen Erinnerungen speist? Aus dem Umstand, dass man zusammen alt geworden ist und ohnehin niemanden Neues mehr als Freund findet? Ist das die Message, die ich meinem Sohn über den Wert von tiefen Freundschaften vermitteln soll? Nachdem er bereits in der Kita die Erfahrung gemacht hat, dass er lieber nicht jedem vertrauen sollte, weil sich plötzlich die ganze Gruppe über seine „Mädchen-Lieblingsfarbe“ Rosa belustigte.

Als ich letzte Woche in der Auslage des Supermarktes ein Schulfreundebuch von „Pettersson und Findus“ entdeckte, habe ich es ihm dennoch gekauft. Es hat sich auch schon ein Freund mit Angaben über seine Lieblingsmusik, -film, -sport, -schulfach und -essen eingetragen. Ein zweiter und dritter Mitschüler waren gleich begierig, sich ebenfalls darin zu verewigen. Ob diese nun reine Nutz- bzw. Zweckfreunde bleiben oder seine späteren Wesensverwandte werden, wird er selbst entscheiden müssen. Dafür gibt es keinen Bauplan, den ich ihm mitgeben könnte.