Schlechtes Benehmen

von Dirk Ryssel

Manchmal wünschte ich mir, ich wäre Harry Callahan: Das ist jener von Clint Eastwood gespielte Polizist, der mit den Worten „Make my day, punk!“ jeden Crétin in die ewigen Jagdgründe ballert.

Es gab eine Zeit, in der wir Teutonen als langweilig galten, weil wir uns strikt an Regeln und Gesetze hielten: Wenn eine Ampel rot war, blieben wir stehen – auch als Fußgänger – und an Geschwindigkeitsbegrenzungen hielt sich zumindest die Mehrheit der Verkehrsteilnehmer. Wir waren zwar nie eine Nation, die für ihre ausgefeilten Manieren bekannt war, aber sein Bier trank man in der Kneipe oder bei sich zu Hause und nicht auf der Straße. Wer mit dem Zug fuhr oder im Wartezimmer saß, unterhielt sich leise, um den anderen nicht zu stören. Und wenn Opa zu seiner Marschmusik wieder zu laut paradierte und deshalb der Nachbar klingelte, entschuldigte er sich, und beiden waren es peinlich, den anderen gestört zu haben.

All diese Verhaltensweisen, die man als gutes Benehmen subsumierte, waren aus der Notwendigkeit entstanden, auf engem Raum mit fremden Menschen zusammenleben zu müssen, ohne sich ständig auf die Nerven zu gehen. Die Freiheit des Einzelnen endete da, wo die Freiheit des anderen begann. Heute geht hingegen der Freiheitsanspruch des Individuums  über sämtliche gesellschaftliche Konventionen und Regeln hinaus.

Ungeniert markieren Männer (und Frauen!) an Häuserwänden, Zäunen und Bäumen ihr Revier oder entleeren sich in den dafür sicher nicht angelegten Gehölzen. Erst letzte Woche habe ich erlebt, wie eine Mittfünfzigerin auf dem Hofspielplatz samt ihrer kackfreudigen Töle in der Randbegrünung verschwand, um nach offenbar simultan getanem Geschäft mit einem seligen Ausdruck wieder aufzutauchen. Als ich aus dem Fenster brüllte und sie mit meinem Teleobjektiv  für die Nachwelt sicherte, beschimpfte sie mich als Faschistenschwein und Onanisten (selbstverständlich in der Vulgärversion). Keine Spur von Scham oder schlechtem Gewissen.

Neulich wusste ich in der U-Bahn nicht, wohin ich rücken sollte, als mein Sitznachbar FAZ-lesend Tiefenbohrungen in seinem Rüssel vornahm, um daraus vertrocknete grüne Würmer zu ziehen, die er geistesabwesend von seinen Griffeln abstreifte. Als dann seine Frau anrief und er mit ihr die Einkaufsliste diskutierte, fragte er sie, ob sie ihm neues Nasenspray besorgt habe. Ich wies ihn darauf hin, dass das für seine Nasenschleimhäute gar nicht gut wäre, worauf er mir als Beweis einen seiner frischen und saftigen Stalaktiten ins Gesicht schoss.

Selbstverständlich habe ich nichts Dergleichen gesagt. Um ehrlich zu sein, ich habe es längst aufgegeben, etwas zu kommentieren, solange nicht irgendjemand in Lebensgefahr ist.

Ob jemand im Kino direkt hinter mir zwei Joghurtgläser mit einem Metalllöffel aushöhlt und danach jeden Finger genüsslich ablutscht, ob in der Ruhezone des ICE im Sekundentakt WhatsApp-Nachrichten eintreffen, sodass sich der wiederholte Signalton wie eine Sturmklingel anhört, ob im selben Abteil die Prenzlauerberg-Öko-Mutti ihre Schmuddelkinder stundenlang in den vollgekoteten Windeln auf den Sitzen turnen, singen und schreien lässt, sodass ich weder etwas lesen oder essen kann – ich ertrage alles stoisch, weil ich weiß, dass ich völlig machtlos bin: Wer so impertinent ist, reagiert nicht auf höfliche Zurechtweisung oder verbale Fürbitte.

Neuerdings klemmt im öffentlichen Gefährt auch niemand mehr seine Schließmuskeln zusammen, wenn ein Biogasschwall nach draußen drängt, sondern lässt seinen Schwefelböen freien Lauf. Und wenn der Rest der Fahrgäste grün anläuft und kurz vor der Ohnmacht steht, wird auch noch selbstbewusst gegrinst, anstatt beschämt den Waggon zu verlassen. Ob Saufen aus der Bierflasche, Füße puhlen oder Krallen scheren – im öffentlichen Raum ist neuerdings alles legitim. Ich kann schon froh sein, dass ich neulich nicht bei der intimen Nudelverspeisung dabei war, die ein junges Liebespaar ungeniert in der U-Bahn praktizierte. Denn was ist passiert, als die Mitreisenden gegen die Sexsüchtigen protestierten? Sie haben eins auf die Nuss gekriegt, weil der Beglückte durch ihre Störung nicht zum Absch(l)uss kam.

Solange nicht jemand in Uniform auftaucht und von seiner Exekutivgewalt Gebrauch macht, scheint alles erlaubt zu sein. Und selbst bei den Hütern des Gesetzes weiß inzwischen jeder, dass diese beim ersten Mal ohnehin nur verwarnen und einem nicht sofort die Handschellen anlegen. Ja, im Radio verkündete letzte Woche ein vor Inbrunst strotzender Moderator, mit seinen 50 Jahren noch nicht zum alten Eisen zu gehören, denn auch seine Party habe es geschafft, dass nachts um 1.00 Uhr die Polizei vor der Tür stand.  Hahaha, ich möchte wetten, seine Nachbarn fanden das alles ebenso lustig…

Ich habe es wirklich satt! Aus diesem Grund habe ich mir eine 44er Magnum bestellt. Ja, genau dieselbe Wumme, die Harry Callahan hat. Samt Munition! Weil man mit freundlichen Worten und einer Waffe nachweislich weiterkommt als nur mit freundlichen Worten. Toll, was man bei eBay alles bekommt.

Hey, was sehe ich denn dort? Da ist doch tatsächlich wieder die Verrückte mit ihrem Drecksköter? Na warte, noch mal lass‘ ich die beiden nicht auf meinem Spielplatz synchronscheißen!

Okay, ich beginne das Zitat, und Sie ergänzen es: „Go ahead…“