Eddies Weihnachten

von Dirk Ryssel

Ich habe diese Geschichte von meinem Freund Eddie. Er beteuert, dass sie sich genau so zugetragen hat, und ich habe keinen Grund daran zu zweifeln.

Es ist schon mehr als ein Jahr her, dass ich auf dieser Seite etwas veröffentlicht habe. Nicht, dass ich keine Lust mehr hätte oder zu faul wäre. Ich hatte zu viel zu tun und daher keine Inspiration für Neues. Dass mich das gerade zum Jahresende deprimiert, kann man sich bestimmt vorstellen.

In dieser Stimmung war ich neulich unterwegs, um meinen neuen Pass zu beantragen, als ich einen alten Bekannten auf der Straße traf: „Na, das ist ja mal ein Zufall“, platzte ich freudig heraus. „Zufälle gibt es nicht!“, konterte Eddie, den ich fast nicht erkannt hätte, so alt war er inzwischen geworden. Da ich zunächst eine Warte-Marke ziehen wollte, schlug ich vor, einen Kaffee im Rathaus trinken. Der nicht gerade wählerische Eddie war einverstanden, und so setzten wir uns mit unseren Plastikbechern vom Automaten in einen Raum, in dem alle Stühle in eine Richtung standen: Mit Blick auf die Monitore, auf denen die Warte-Nummern mit den zuständigen Bearbeitungsplätzen und Zimmern angezeigt werden.

Wir unterhielten uns darüber, was wir in diesem Jahr gemacht hätten, und ich klagte ihm mein Leid über meine mangelnde Kreativität. „Wieso meinst du, dass es keine Zufälle gibt?“, fragte ich ihn. Er lächelte mich ein bisschen diabolisch an: „Etwas fällt uns zu, weil es fällig ist!“ Er bemerkte meinen skeptischen Blick: „Darf ich dir eine kurze Geschichte erzählen?“ Ich sah auf den Bildschirm an der Wand gegenüber und überschlug die 28 Antragsteller, die vor mir drankämen: „Nichts lieber als das“, forderte ich ihn auf und so begann er, mir von einer Begegnung zu erzählen, die sich angeblich genau so am 24.12.2019 zugetragen habe.

Die Weihnachtsfeiertage standen vor der Tür: Die Straßen voller Menschen, die darauf versessen waren, für sich und ihre Liebsten, das perfekte Fest auszurichten. Eddie war – wie  seit einigen Jahren um diese Zeit – schlecht gelaunt. Er hatte weder eine Freundin noch Kinder oder Geld. Dieser zuckerwattige Weihnachtskitsch konnte ihm gestohlen bleiben. Hauptsache, er hatte eine Flasche Wein sowie ein bisschen Brot, Kaffee und Zigaretten. Und selbst wenn er drei Tage Haferflocken fräße – wen interessierte das schon?

Woran er allerdings nicht gedacht hatte, war, dass über die Feiertage und zwischen den Jahren in der Regel alle Arztpraxen geschlossen hatten. Ich muss dazu erklären, dass Eddie seit ungefähr 30 Jahren an Depressionen leidet, weshalb er unregelmäßig zum Psychiater geht, um sich Tabletten verschreiben zu lassen. Und die Gefahr eines mentalen Absturzes war an Weihnachten, wenn sich die meisten seiner Freunde mit oder bei ihren Familien einigelten, durchaus gegeben. Leider wurde ihm das erst am frühen Morgen des 24.12. bewusst. Früh heißt bei Eddie gegen 11.00 Uhr, weshalb er sich eiligst anzog und auf den Weg machte. Irgendwo unterwegs verlor er zu allem Überdruss seine Brieftasche mit der EC-Karte und dem letzten Bargeld, was er für den Monat noch hatte. Egal, darum müsste er sich später kümmern.

Als er an der Praxistür klingelte, wunderte er sich bereits, dass kein Licht durch das Türfenster zu sehen war. Er schaute auf die Uhr und stellte fest, dass er noch nicht zu spät war, als er den handgeschriebenen Zettel an der linken Türhälfte bemerkte: „An Heiligabend bleibt die Praxis leider geschlossen!“ Frustriert stieg Eddie die Treppen herunter und überlegte krampfhaft, wie er seine Tabletten noch bekommen konnte. Irgendwo musste ein Streifen Citalopram bei ihm herumliegen, die Frage war, wo?

Er öffnete die Haustür: Vor ihm stand eine kleine Gestalt in einem dünnen Anorak, dessen Kapuze auf ihrem Kopf so weit zugezogen war, dass nur ein Schlitz in Augenhöhe zu sehen war, der ihre spitze Nase preisgab, an der ein durchsichtiger Tropfen hing. Sie schlängelte sich an ihm vorbei und eilte die Treppen nach oben, um an derselben Tür zu klingeln, war aber genauso erfolglos wie er.

Anstatt herunterzukommen, setzte sie sich auf die Stufen. Eddie, der noch immer in der Tür stand, um nach ihr zu sehen, bemerkte, wie ihr Körper zitterte. Ist ihr kalt oder weint sie, fragte er sich, als er wieder nach oben ging. Der Tropfen an ihrer Nase hatte sich inzwischen zu einem zähflüssigen Strom entwickelt. Eddie kramte eine Packung Taschentücher hervor. „Tut mir leid“, sagte sie. „Das muss Ihnen nicht leid tun“, beschwichtigte Eddie. „Ich war auch schon in so einer Verfassung“. „Ach, wirklich?“, wisperte sie, korrigierte erst den äußeren Kragen ihrer Jacke mit den von der Kälte geröteten Fingern, um dann Eddie für einen kurzen Moment aus dem kleinen Schlitz ihrer Kapuze anzusehen. „Ja, vor ein paar Jahren“, bestätigte Eddie. „Ich war sogar in einer Klinik. Aber dank Dr. Markus geht es mir jetzt besser.“ Sie senkte den Kopf, und Eddie konnte sehen, wie zwei Tränen auf den Stufen landeten. „Soll ich den sozialpsychiatrischen Notdienst anrufen?“, fragte er, weil er sie nicht dort sitzen lassen wollte. Sie schüttelte den Kopf. „Ich könnte Sie auch in eine Klinik begleiten“, bot er an. „Danke“, sagte sie, „es geht schon. Aber heute geht es mir nicht besonders.“

Unauffällig durchkramte Eddie seine Mantel- und Hosentaschen und fand dort einen 10-Euro-Schein, den er immer zur Sicherheit für Zigaretten dabei hatte. Sein Konto war bis zum Limit überzogen, das Bürgergeld für Januar noch nicht gekommen, aber ohnehin musste er jetzt erstmal seine Karte sperren lassen und eine neue beantragen. „Es hat keinen Sinn zu warten, da kommt heute und in den nächsten drei Tagen keiner mehr. Möchten Sie, dass ich Sie heimbringe?“ „Danke“, wisperte sie, „ich warte noch einen Moment, dann fahre ich nach Hause.“ Kopfschüttelnd ließ Eddie sie auf der Treppe sitzen und ging aus dem Haus.

Auf der gegenüberliegenden Seite entdeckte er einen Tabakladen mit einem kleinen Internet-Café. Wenigstens Zigaretten holen, dachte er und überquerte die Ampelkreuzung. Er holte seine übliche Packung Chesterfield und verließ den ungemütlichen Laden in Richtung Bushaltestelle. Als er über die Fußgängerampel kam, sah er die Gestalt aus dem Treppenhaus, wie sie unschlüssig zwischen dem Haltepunkt und dem Haus hin- und hertippelte. Immer wieder justierte sie mit großer Sorgfalt und Präzision ihre beiden Jackenkragen, die eigentlich perfekt hochstanden. Dabei schien sie unentwegt mit jemandem zu schimpfen, ohne dass Eddie etwas hören konnte. Plötzlich stoppte sie direkt vor Eddie und sah zu ihm hoch. „Hören Sie“, sagte er, „ich will Ihnen wirklich nicht zu nahe treten, und Sie brauchen sich auch nicht mit mir zu unterhalten, aber ich kann Sie nicht hier stehen lassen. Wenn Sie nicht nach Hause oder in eine Klinik fahren wollen, vielleicht begleiten sie mich in das Café dort drüben? Das ist besser, als in der Kälte darüber nachzudenken, was Sie tun wollen.“ „Danke“, stammelte sie, „ich fahr‘ gleich nach Hause.“

Eddie gab auf. Als endlich der Bus kam, ging er zum hinteren Eingang, damit er nicht vorne seine Fahrkarte zeigen musste. Er wollte schwarzfahren, um für diesen unnützen Weg nicht zwei Tickets zu verschwenden. Gerade als er einstieg, hörte er ihre leise Stimme: „Vielleicht würde ich doch gerne einen Kaffee trinken, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“ Schnell drückte Eddie auf den Knopf der sich schließenden Bustür und sprang heraus. „Danke“, flüsterte sie.

Im Café roch es nach abgestandenem Zigarettenrauch. Eddie bestellte zwei Cappuccini und zeigte ihr einen Platz am Bistrotisch. Er selbst setzte sich an den freien Computer, um sie nicht zu stören. Während er bei eBay surfte, sah er zu ihr herüber: Sie trank ihren Kaffee ziemlich schnell und blickte die ganze Zeit auf den Boden. Vielleicht beruhigte sie das Muster des schmutzigen PVCs. Eddie fragte, ob sie ein Croissant oder einen Keks dazu wolle, aber sie schüttelte nur den Kopf und stellte die Tasse schnell wieder ab. Erneut fixierte sie mehrere Male hintereinander ihre beiden Kragen. Ganz sacht bewegte sie ihren Oberkörper vor und zurück. Eddie konnte erkennen, dass sie neuerlich vor sich hin flüsterte. Auf einmal stand sie auf, nahm aber gleich darauf wieder Platz. Das ging bestimmt fünf weitere Male so. „Wollen Sie nach Hause?“, fragte Eddie. Zögernd kam sie zu ihm: „Wissen Sie, wo die Toiletten sind?“ Eddie schaute sich suchend um: Auch er war hier zum ersten Mal. „Den Gang runter, letzte Tür!“, tönte es vom Tresen. Der Café-Betreiber schaute sie misstrauisch an. Unsicher ging die junge Frau den Flur hinunter, um gleich darauf verwirrt zurückzukehren. Eddie stand auf und begleitete sie bis zur genderneutralen Toilette. „Is bisschen balla-balla, hä?“ Der Café-Chef rollte die Augen. Eddie zuckte mit den Schultern. „Ein wenig neben der Spur, heute. Ist halt Weihnachten!“

Als sie zurückkam, hatte ihr der Café-Besitzer eine Rosinenschnecke hingestellt und die Kerze auf ihrem Tisch angezündet. „Is heut‘ Weihnachten! Is von Haus, okay?“, kommentierte er, während sie kurz zu ihm hochschaute. Im Weggehen nickte er Eddie zu, der sich wiederum mit zwei gefalteten Händen bedankte. „Alles klar, Chef? Noch einen Cappuccino?“ „Noch zwei, bitte. Danke!“, bestellte Eddie. So vergingen die nächsten Minuten, ohne dass viele Worte zwischen den dreien gewechselt wurden. Mehrmals sprang die Frau auf, weil sie wahlweise auf die Toilette oder vor die Tür gehen wollte, um eine Zigarette zu rauchen. „Kannssu drinnen rauchen! Stört niemanden hier!“ Jedes Mal sprang Eddie auf, um sicher zu gehen, dass sie nicht abhaute.

Dann war es plötzlich abends, und der Café-Besitzer wollte schließen. Ehe sich Eddie versah, stand die Frau an seinem Tisch. Schnell loggte er sich aus und wollte schon aufstehen, als sie ihn fragte: „Und Sie sind wirklich in einer Klinik gewesen?“ Eddie musterte sie zum ersten Mal genauer: Sie rieb ihre schmalen Finger aneinander, deren Haut rau und rissig war. Die Fingernägel waren abgekaut, und unschwer konnte er die verschorften Risse und Schnitte erkennen, die definitiv nicht von einer Katze oder einem Kaninchen stammten. Auch nahm er durch ihre Nähe und den geschlossenen Raum einen stechenden Uringeruch wahr. Ob sie wirklich ein Zuhause hatte, oder lebte sie auf der Straße? Dagegen sprach jedoch ihre recht saubere Kleidung.

Sie sah kurz zu ihm hoch und richtete gewissenhaft ihre beiden Kragen der Jacken, die sie im Café nicht ausgezogen, sondern nur bis zur Hälfte geöffnet hatte. Eddie bemerkte trotz der geschlossenen Kapuze, dass sie ausgesprochen schöne, leuchtend blaue Augen hatte. Auch die geschwungenen, vollen Lippen sprachen dafür, dass sie eine hübsche, junge Frau war. Was konnte mit ihr passiert sein, dass sie sich dermaßen ängstlich und nervös durch den Tag kämpfte? „Ja“, antwortete er endlich. „Ich war mehrere Monate in der Psychiatrischen Abteilung in Weißensee. Eine gute Klinik.“ „Und weshalb waren Sie dort?“, kam kaum hörbar aus ihrem Mund. „Angststörungen und Panikattacken!“ Sie wippte zustimmend mit dem Oberkörper.

Draußen ging ein nasser Schneeregen los. „Oh Mann, was das!?“, fluchte der  Café-Betreiber. „Können wir vielleicht noch einen Moment bleiben? „, fragte Eddie. „Was machst du mit dem restlichen Gebäck?“ „Kannssu alles haben, Chef“, antwortete er. Er kam mit einem Teller voller Leckereien, und Eddie bat ihn, sich zu ihnen zu setzen. Nachdem Eddie ihm seinen Namen sagte, stellte sich der Café-Besitzer als Mahmoud vor. Eddie schätzte ihn auf ungefähr 30 ein.

Während sie alle an dem kleinen Tisch saßen und die Reste an Keksen und Croissants vertilgten, begann Eddie von Weihnachten bei sich zu Hause zu erzählen: Wenn er mit seinen Brüdern zu Mittag aß, fand deren demente Mutter zwar manchmal nicht mehr zurück in die Küche, aber die Weihnachtsgans war trotz allem immer perfekt: mit Rotkohl und eingeweckten Birnen aus dem eigenen Garten. Mahmoud feierte zwar Weihnachten, aber er hielt sich auch an den Ramadan. Und erzählte, wie er als Kind im Jahr 2000 Gott austricksen wollte, weil die Weihnachtszeit mit dem Fastenmonat zusammenfiel. Während der Unterhaltung beobachtete Eddie die junge Frau: Für kurze Momente sah sie auf, vereinzelt hatte er sogar den Eindruck, sie würde lachen, vor allem als Mahmoud beschrieb, wie er hinter dem Vorhang einen Lebkuchen vertilgte, im Glauben, Allah könne ihn dort nicht sehen.

Irgendwann kamen sie auf Gott zu sprechen, und Mahmoud wollte von Eddie wissen, ob er an Gott glaube. Ein schlechtes Thema, fand Eddie, weshalb er vorschlug, nebenan in der Döner-Bude etwas zu essen und zu trinken zu besorgen. Sogleich sprang Mahmoud auf und kehrte mit drei Tellern voller Döner und Salat zurück. Für sich und die Frau hatte er eine Cola, für Eddie ein Bier. Als Eddie ihm Geld dafür geben wollte, erinnerte er sich an den Verlust seines Portemonnaies am Morgen. Seine restlichen fünf Euro, die er nach dem Zigarettenkauf noch hatte, müssten längst aufgebraucht sein. Mahmoud winkte ab: Der Kollege nebenan hatte frohe Weihnachten gewünscht und ihm das Essen ohne große Geste herübergereicht.

Gegen 22.00 Uhr waren sie mit dem Essen fertig, und mittlerweile gingen ihnen der Gesprächsstoff und Eddie seine Zigaretten aus. Er wollte eine neue Schachtel bei Mahmoud kaufen, bekam sie aber obendrein. „Frohe Weihnachten“, wünschte er ihm. Als sie sich vor der Tür verabschiedet hatten und Eddie zum Bus ging, sprach ihn die junge Frau an: „Vielleicht würde ich in die Klinik gehen, von der sie sprachen“, sagte sie so, dass es wie eine Frage klang. Eddie rang mit sich: Er war müde und kaputt und wollte eigentlich nach Hause. Wenn er jetzt seine restlichen fünf Euro für die Fahrkarten ausgab, hatte er über Weihnachten keinen Cent mehr. „Soll ich Sie hinbringen?“, fragte er möglichst neutral klingend. „Ja, danke, das wäre nett.“ Also fuhren sie die Odyssee von Schöneberg nach Pankow und von dort mit dem Bus zum St. Joseph-Krankenhaus in Weißensee. Dort fragten sie beim Pförtner nach der Aufnahme der psychiatrischen Abteilung, wo Eddie die junge Frau bei Nachtschwester Angelika abgab, die ihn, was ihm unangenehm war, nach all den Jahren wiedererkannte.

Gegen 23.00 Uhr bestieg Eddie endlich den Bus in Richtung Pankow. Was für ein Tag, schmunzelte er vor sich hin. Weshalb musste er nochmal so dringend zum Arzt, und wieso hatte das alles so lange gedauert? Er hätte längst im Bett sein können. Ja, es war Heiligabend, und da konnte man niemand allein zurücklassen. Schon gar nicht auf der Straße und schon gar nicht, wenn es jemand so schlecht ging wie dieser jungen Frau. Aber seit seine Mutter gestorben war, hatte keiner in seiner Familie mehr groß Weihnachten gefeiert. Sein älterer Bruder war von seiner Frau getrennt und führte seitdem das Leben eines Eremiten. Seinem jüngeren Bruder schuldete Eddie noch Geld, vermutlich meldete er sich deshalb nicht mehr. Sein Bruder hatte ein schweres Schicksal hinter sich: Sein dreijähriges Kind war im Pool ertrunken. Danach hatten er und seine Frau sich scheiden lassen, kamen aber nach ein paar Jahren wieder zusammen. Inzwischen haben sie eine 10-jährige Tochter, die Eddie erst zweimal gesehen hat.

Als Eddie sich in die hinterste Reihe fläzte, entdeckte er in der Sitzecke eine kleine Tüte. Ein kurzer Blick zum Busfahrer, der gerade um eine Kurve abbog, versicherte ihm, dass sein Fund unentdeckt geblieben war. Er überprüfte den Inhalt und fand neben zwei Packungen Multivitamine und einem Haarfärbemittel für Männer ein Couponheft einer Drogeriekette. Neugierig nahm er es heraus, als plötzlich zwei nagelneue 100-Euro-Scheine auf seinen Schoß segelten. Wie aus Angst, sie könnten davonfliegen, schlug Eddie sofort das Heft darauf, legte die Scheine wieder zwischen die Seiten und packte alles weg. Er schaute zum Busfahrer, doch der blickte stur nach vorne. Kurzentschlossen nahm er die Tüte samt dem Geld an sich und stieg am Bahnhof Pankow aus, um in die S-Bahn zu wechseln.

Am 1. Weihnachtstag gönnte er sich beim Italiener in seiner Straße ein Mittagsmenü mit Hirschbraten zart rosa, Rosmarin-Kartoffeln und Rosenkohl. Am 2. Weihnachtstag rief er seine beiden Brüder an, um sie beim selben Italiener zum Gänse-Menü einzuladen. Seine Schwägerin und seine Nichte blieben leider zu Hause. Natürlich meckerte sein älterer Bruder, dass die Gans bei ihrer Mutter besser gewesen sei, aber das war nicht anders zu erwarten.

Wochen später erfuhr Eddie von Dr. Markus, dass die junge Frau an Schizophrenie litt: „Sie fühlt sich von einem Mann verfolgt, der sich zunächst ihr Geld und dann ihre Identität aneignen will.“ Als Eddie ihm erzählte, dass er den Heiligabend mit ihr verbracht und sie danach in die Klinik in Weißensee begleitet hatte, war der Psychiater reichlich baff: Dass sie den ganzen Tag mit zwei Männern zusammen war und dann mit ihm zur Klinik gefahren sei, gleiche einem Wunder. Wie Eddie allerdings erfuhr, ließ sie sich bereits nach den Feiertagen wieder entlassen. So wie die letzten drei Male. Sie verweigert, dauerhaft ihre Tabletten zu nehmen, weshalb es immer wieder zu den Abstürzen kommt. Ach ja, tatsächlich fand Eddie tags darauf seine Antidepressiva zwischen einem Stapel von Zeitschriften. Hatte ich erwähnt, dass er Messie ist?

„Und das ist alles wirklich so vor drei Jahren passiert?“, fragte ich, weil ich mittlerweile etwas skeptisch geworden war. Eddie grinste. Endlich erschien meine Wartenummer auf dem Bürgeramt. „Nun bekomme ich meinen neuen Pass“, sagte ich zu Eddie. „Und hast hoffentlich eine neue Story für deine Seite“, antwortete er und verabschiedete sich.