Mit dem Älterwerden ist das bei Männern so eine Sache. Obgleich uns die Haare ausfallen oder grau werden, mancher Mann einen Wohlstandsbauch bekommt und der vormals kernige Apfelpo der Gravitation mehr gehorcht als dem schweißtreibenden Bodyshaping im Fitness-Center, im spiegelfreien Alltag bleiben wir immer um die 35 Jahre alt. Wie gesagt, nicht äußerlich, sondern nur in unserem Bewusstsein. Denn selbst, wenn die allseits gepriesene Manneskraft kongruent zu den Bindegewebsfaszien ihren Zenit überschritten hat, meinen wir immer noch beim gebärfähigen Geschlecht landen zu können. Nicht nur spätpubertierende Hollywood-Stars oder Politiker wie Gerhard Schröder und Franz Müntefering meinen das, nein, der Begattungstrieb der Skrotumträger scheint sich naturgegeben immer auf das fruchtbarste Objekt der Begierde zu richten. Das glauben Sie nicht? Dann lesen Sie weiter.
Ein sehr guter Freund von mir ist neuerdings wieder Single. Das heißt, kein echter Single, denn für den Rest seines Lebens ist er zudem Familienvater. Um eine neue Frau kennen zu lernen, hat er sich, wie das heute üblich ist, in einem der Dating-Portale angemeldet. Dort änderte er nicht nur seinen Namen, was wohl recht normal ist, sondern frisierte auch ein bisschen an seinem Alter, was vermutlich ebenso gängig sein wird. Nur nicht wie vielleicht die meisten seiner Mitbewerber ein bis zwei Jahre, nein, er hat gleich eine Verjüngungskur von 11 Jahren vorgenommen, also statt als 50 Jahre alt hat er sich als 39 Jahre jung präsentiert.
Als er sich mit einer 33-jährigen Frau traf und ihr sowohl seinen richtigen Namen als auch sein wahres Alter verklickerte sowie den kleinen Umstand, zwei Kinder zu haben, verlief der Abend recht einsilbig und kurz: Die junge Gespielin war nicht nur zwanghaft mit dem Abhaken und Streichen ihrer Kriterienliste für den infrage kommenden Mr. Right beschäftigt, sie fühlte sich – gelinde gesagt – auch etwas verarscht. Nun muss ich dazu sagen, mein Freund sieht wirklich außergewöhnlich gut aus und war in früheren Jahren ein absoluter Frauenschwarm. Dass er allerdings überhaupt nicht nachempfinden konnte, dass der jungen Frau ein 50-Järiger zu alt ist und sich sogar diskriminiert fühlte, bezeugt nur umso deutlicher meine oben genannte These der männlichen Selbstwahrnehmung.
Ich will keinesfalls behaupten, dass ich besser bin. Als ich meinen Sohn noch zur Kita brachte, traf ich jeden Morgen eine Menge junger, attraktiver Frauen. Doch während ich die Anfang 30-Jährigen anlächelte, sahen diese regelrecht durch mich durch: als ob ich unsichtbar wäre! Lächelte mich hingegen eine Frau von Ende 40 an, dachte ich: Was will denn die alte Schabracke von mir? Bis mir klar wurde, dass sie in meinem Alter war.
Seitdem sich mein vormals brauner Kopfschmuck zunächst entlaubt und dann noch entfärbt hat, kann ich bei jungen Frauen nur noch punkten, wenn ich mein Flatcap trage. Doch sobald ich dies abnehme, wenden sich die Blicke von mir ab, als ob ich eine schlimme Kriegsverletzung hätte. Weiße Haare scheinen auf junge Frauen ungefähr so sexy zu wirken wie eine Kittelschürze oder ein Doppelkinn. Ja, auch alte weiße Männer wie ich werden gedemütigt. Aber selbst schuld!
Als ich kürzlich mal wieder zur Physiotherapie musste und nichts ahnend zum Empfang kam, lächelte mich wider Erwarten eine umwerfend attraktive 25-jährige Blondine an. Reflexartig wollte ich mich schon umsehen, ob vielleicht Ryan Gosling oder Chris Hemsworth hinter mir steht, aber nein, sie meinte tatsächlich mich. „Halloooo“, schallte es durch meinen Brägen, und meine Augen begannen Spiralen zu drehen. Doch bevor ich meine erotischen Fantasien verbalisieren konnte, holte mich mein Physiotherapeut in die Realität zurück: „Herr Ryssel, Sie können schon in Kabine 4 gehen.“ „Alleine?“, wollte ich bereits erwartungsvoll fragen, aber stattdessen fügte ich mich seiner Anweisung.
Ich saß bereits auf der Liege, als der Therapeut aufgeregt in die Kabine kam: „Herr Ryssel, Sie glauben gar nicht, wie ich mich soeben für Sie verwenden musste“, legte er los. „Wieso?“, fragte ich ganz unschuldig. „Haben Sie gerade die junge Frau am Empfang gesehen?“ „Kaum“, tat ich ganz unwissend. „Sie glauben gar nicht, wie ich mich winden musste, nicht ihre Telefonnummer herauszugeben. Obwohl ich ihr gesagt habe, dass Sie verheiratet sind, ließ sie nicht locker.“ „Ach wirklich?“, entgegnete ich betont beiläufig und zog mein T-Shirt aus. „Was wollte sie denn so Dringendes von mir?“ Lässig warf ich das Hemd in einem hohen Bogen auf den Stuhl. Der Therapeut drückte sanft meinen Oberkörper auf die Liege: „Sie fand, dass Sie ein passender Mann für ihre geschiedene Mutter wären!“