Seit einiger Zeit wird mir nachgesagt, meine Kolumnen seien so negativ. Das verstehe ich nicht. Wie könnte mir in meiner 14-Zimmer-Villa je etwas Negatives einfallen? Wenn ich aus dem Fenster sehe, erfreue ich mich an den pittoresken Fliederblütenblättern, die meine Kieseinfahrt schmücken, an deren Ende mein alter Aston Martin DB5 neben meinem Volvo P1800 glänzt. Selbst an meinem Gärtner, der gerade meine Buchsbaum-Skulpturen begradigt, habe ich nichts auszusetzen. Und das konstant milde Wetter in Berlin mit seinen stets wärmenden Sonnenstrahlen macht die Mitmenschen höflich und freundlich: Autos nehmen Rücksicht auf Radler, zumal unser Senat ja auch auf allen Straßen zwei Meter breite Radwege errichtet hat. Parken in zweiter Reihe oder auf dem Bürgersteig – in anderen Städten vielleicht, aber hier? Hier koten die Hunde auch nur auf die für sie vorgesehenen Toiletten und putzen sich anschließend selbstständig mit der Hinterpfote den Allerwertesten ab. Was gäbe es darüber wohl zu lästern?
Nein, Berlin ist die globale Vorzeig-Metropole der Harmonie und Entspanntheit: Autofahrer überlassen anderen mit Freude den Parkplatz und werden auch dann nicht ungeduldig, wenn ein 93-jähriger Senior zum siebzehnten Mal wieder aus der Parklücke herausfährt, um einen neuen Versuch zu starten. Erst gestern habe ich es erlebt, dass sich gleich vier freundliche Fahrer anboten, das Kfz eines Silver-Agers einzuparken, aber sogleich Einsehen hatten, dass er es selbst schaffen wollte. Berlin ist eben die Stadt der gelebten Empathie: Alte und Junge, Arme und Reiche, Kranke und Gesunde – alle haben ein Ohr füreinander und greifen sich unter die Arme. Jeder hat ein bisschen Zeit für den anderen – Eile und Stress, so etwas kennen wir hier nicht.
Hier ist auch nie jemand zu laut: Flugzeuge fliegen einen großen Bogen um die Stadt, bevor sie lautlos auf Tegel einschweben. LKW und Busse gibt es nur noch als Elektro- und Hybridfahrzeuge, alle Straßen sind mit Flüsterasphalt ausgelegt, und wie man den Berliner ja weltweit kennt, redet er nur mit gedämpfter sanfter Stimme, ist verständnisvoll für die Lärmempfindlichkeit seiner Mitmenschen, stellt selbstzensorisch seine Musik auf Zimmerlautstärke oder hört mit Kopfhörern. Die Gehsteige sind so sauber, dass Ergo-Therapeuten und Rolfing-Trainer Babys und Kleinkinder lieber draußen behandeln, anstatt extra dafür Räume anzumieten. Überall halten die Leute spontane Picknicks ab, für die sie nicht einmal Teller benötigen, weil sie vom Boden essen können.
Selbst wenn ich schwer nachdenken müsste, würde mir in dieser Stadt beim besten Willen nichts Negatives einfallen: Jeder auf der Welt kennt die Generosität von Berliner Verkäufern und Restaurant-Besitzer, die einem non-verbal die Wünsche von den Lippen ablesen und ihre Gäste stets zum Kaffee oder zum kleinen Aperitif einladen. Wir sind berühmt für unserer Geselligkeit, für Nachbarn, die immer Zeit haben und ihre Anteilnahme beim Flurgespräch zeigen, ja, sich sogar freuen, ein Paket für ihre Mitbewohner entgegenzunehmen und ungefragt auszuhändigen. Was sollte ich also zu meckern haben?
Es geht mir wunderbar: Ich habe kein Rücken, „grippale Infekte“ kann ich nicht einmal buchstabieren, und als selbstständiger Lektor scheffele ich Schubkarren voller Geld – so viel, dass ich mein Bettzeug weggeworfen und mit den lästigen Fünfhundertern, die ohnehin bald nichts mehr wert sind, ausgestopft habe. In unserer Familie gibt es nie Streit: Seitdem mir meine Eltern ein Vermögen vererbt haben, gegen das Bill Gates‘ Fantastilliarden Peanuts sind, habe ich ihnen alle Sünden verziehen. Nein ehrlich, wir feiern Ostern, Weihnachten und sämtliche Geburtstage zusammen und telefonieren täglich, um unsere nicht vorhandenen Sorgen miteinander zu teilen. Klingt das etwa negativ?
Meine Honorare sind so fett, dass es ausreicht, wenn ich jährlich ein bis zwei Drehbücher lese, um recht ordentlich über die Runden zu kommen. Den Rest meiner üppigen Freizeit verbringe ich mit entspannter Urlaubsplanung zu exotischen Zielen, die wir noch nicht kennen und mit unserem Elektro-Überschallflugzeug bereisen wollen. Das einzige Negative, was ich dazu anzumerken hätte, ist, dass mir allmählich keine Orte mehr auf unserem kleinen Planeten einfallen, die wir noch nicht kennen. Vielleicht schafft es ja Richard Branson bald, seine Mondrakete fertigzustellen, damit wir endlich wieder neue Ziele für unsere vielen Urlaube fixieren können.
So, jetzt klopfen gerade meine fünf Kinder zaghaft an der Tür. Sie sind immer so schüchtern, weil sie ihren Papa nicht bei der Arbeit stören möchten, nur weil sie ihm sein tägliches Violinen-Quintett vortragen wollen.