Hirn auf Lautsprecher

von Dirk Ryssel

Seit einiger Zeit leide ich unter einem schwer zu ertragenden Kommunikationsverhalten meiner Mitmenschen. Oder ist es eine Störung? Ich nenne es: „Das Hirn auf Lautsprecher stellen“. Ähnlich wie jene Taste am Telefon macht man alle Gedanken und Synapsen, die einem durch das zerebrale Organoid schießen, für andere hörbar. Ohne Vorfilter, ohne Bewusstsein, ohne Selektion, wen man was wissen lässt. Wie ein kognitiver Räumungsverkauf: „Alles muss raus!“

Ich habe keine Ahnung, wer sich das von wem abgeguckt hat, ob Kinder von ihren Eltern, ob die digitale Community von der analogen oder umgekehrt. Überall texten und zwitschern Erwachsene und weniger Erwachsene einander mit allerlei belanglosem Zeug zu. Und kommen nicht einmal auf die Idee, den anderen zu fragen, ob es ihn interessiert oder nicht.

Am Wochenende bekam ich mit, wie eine junge Frau in der Regionalbahn ihrer Freundin von der Friedrichstraße bis zum Bahnhof Potsdam in allen Details ihren Vorabend schilderte: Welche U-Bahn sie genommen habe, wer dort alles drinnen saß, welche Haltestelle sie ausgestiegen sei, welchen Weg sie dann eingeschlagen habe, wann sie bei der Party eingetroffen sei, was es dort zu essen und zu trinken gegeben habe, und schließlich wann und wie sie auf die Toilette gegangen sei etc.. Die Freundin war zu höflich, um diesen Monolog abzuwürgen: Sie stellte hie und da eine Frage, um das Thema in eine andere Richtung zu lenken, doch das war für Schnatterinchen sogleich die Vorlage für weitere Aufzählungen. Zum Glück saß ich weit genug entfernt, um die phonetische Dauerschleife auszublenden, doch meine Frau bekam die volle Packung ab.

Heute Morgen erhielt hingegen ich eine mentale Katharsis, als der eigentlich recht nette Hausmeister des Sportplatzes eine furiose Kommunikationsbrücke von Regelverletzungen auf dem Trainingsareal zu kriminellen Flüchtlingen schlug. Zum Glück kann man sich als Sportler alsbald auf die Unterkühlung der Muskeln und die damit verbundene Verletzungsgefahr berufen, um nicht allzu lange das Opfer solch einer Brägengrütze zu sein.

Ich will nicht behaupten, dass es derartige Quatschkisten nicht schon früher gab, aber sie waren eher die Minderheit – unter Männern gar Exoten. Während der Schulzeit hatte ich einen Kumpel, der bei seinem autoritären Soziologen-Vater möglicherweise nicht viel zu Wort kam, weshalb er mitunter recht ausführlich von unwichtigen Begebenheiten berichtete. So z.B. von einer Fahrt zu seiner Oma nach Einbeck (bei Göttingen): Noch heute kann ich jede Kurve aufzählen, die er bei der Beschreibung seiner Wegstrecke erwähnt hatte. Da er ansonsten ein so lieber Kerl war, wollte ich ihn ungern vor den Kopf stoßen und unterbrechen. Allerdings habe ich ihn manchmal damit aufgezogen und ihn mit Higgins aus der damals populären TV-Serie Magnum P.I. verglichen: „Bitte, die Kurzform!“

Sein zwanghaftes Mitteilungsbedürfnis war so außergewöhnlich, dass es mir 35 Jahre später noch in Erinnerung ist. Heute hingegen scheint es völlig normal zu sein, den anderen unaufgefordert voll zu labern. Bereits am frühen Morgen zählt mir mein 11-Jähriger jedes einzelne Level seiner fünfundzwanzig Computerspiele auf, die er am Vortag gezockt hat. Wenn ich ihn dann anflehe, damit aufzuhören, weil ich vor dem ersten Kaffee von solchen Kalaschnikow-Vorträgen Kopfschmerzen bekomme, werde ich angepflaumt: „Mann, warum hast du schon wieder so schlechte Laune? Nie darf ich dir was von meinem Spiel erzählen!“ Ich muss oft an jene Szene aus The Public Enemy denken, in der ein sehr schlecht gelaunter James Cagney seiner gesprächsfreudigen Geliebten spontan eine aufgeschnittene Grapefruit auf den Mund drückt. So sieht schlechte Laune aus.

Okay, Kinder müssen erst lernen, wie Kommunikation funktioniert, und ich bemühe mich mal sanft, mal weniger sangt, meinem Sohn klarzumachen, dass es für ein (konstruktives) Gespräch immer zwei Interessierte braucht. Beide Gesprächspartner sollten versuchen, das Interesse ihres Gegenübers zu wecken und/oder zu halten. Ich wünschte, mancher Erwachsene würde erst überlegen, ob das, was er sagen zu hat, wirklich von Relevanz für sein Gegenüber ist. Ob es zu einer intellektuellen oder empathischen Bereicherung des Gesprächspartners beiträgt. Oder ob es den Unterhaltungswert des  Dialoges hebt, weil man von einem außergewöhnlichen Ereignis zu berichten hat. Und dazu gehören weder die verpasste Straßenbahn noch das Buffet der Studentenparty – es sei denn, es gab Affenhirn auf Eis oder glasierte Riesenkakerlaken.

De facto sieht es doch so aus, dass wir alle nichts mehr Wichtiges zu berichten haben. Wer von uns rettet schon täglich ein Dutzend Menschen vor der Ebola-Erkrankung oder transplantiert einem Kleinkind ein neues Herz? Keiner will aber zugeben, wie banal, langweilig und bedeutungslos sein Dasein eigentlich ist. Zumal uns ja die sozialen Netzwerke permanent dazu auffordern, irgendetwas von uns preiszugeben, und sei es nur unser Mittagmenü oder unser Outfit bei der letzten Beerdigung. Alles erscheint uns plötzlich wichtig. Alles muss veröffentlicht oder (mit)geteilt und wenn nicht, dann eben auf andere Weise kommuniziert werden. Jeder fühlt sich wie der wichtigste Mann (oder die wichtigste Frau) im Dorf.  Schüchternheit ist out. Wann werden eigentlich die organischen Upload-Filter zwischen Hirn und Sprachzentrum eingeführt?

Dank des Klimawandels und der Notwendigkeit zur Reduktion des Treibhausgases kehrt jedoch endlich bald Ruhe ein: Mit der hoffentlich demnächst eingeführten CO2-Steuer müssen auch Plappermäuler künftig wieder vermehrt die Fresse halten.