Impfneid

von Dirk Ryssel

Es regnet. Ich tänzle durch die Straße, springe in die Luft und schlage dabei die Hacken zusammen. Ich steppe den Bordstein herauf und herunter. Ich umfasse einen Laternenpfahl, klettere zur Hälfte nach oben und drehe mich im Kreis. Ich springe in eine Pfütze und erfreue mich des Wassers, das hochspritzt. Plötzlich steht ein Kontaktbereichsbeamter vor mir. Ich strahle ihn an und verkünde stolz: „Ich bin geimpft!“. Er schnauzt mich an: „Aufstehen! Es ist bereits kurz nach acht!“

Meine Frau stratzt auf den klackernden Gummisohlen ihrer Hausschuhe durchs Schlafzimmer und reißt die Vorhänge und kurz danach das Fenster auf. Es wird schlagartig kalt. Das Einzige, was aus meinem Traum übrig geblieben ist, ist der Regen, dessen Pladdern auf dem Fensterbrett ich als meinen Stepptanz verarbeitet habe. Ich sehe mich im Zimmer um und entdecke an meiner Wand ein altes gerahmtes Standfoto aus „Singin‘ in the Rain“. Allmählich desillusionieren sich die einzelnen Versatzstücke meines Wunschtraums.

Es ist Anfang Mai, und ich bin noch nicht geimpft. Nicht einmal einen Termin oder einen Startplatz auf irgendeiner Warteliste konnte ich erlangen. Ich bin Asthmatiker. Laut Impfpriorisierung der KV Berlin hätte ich bis zum 12. April 2021 eine Einladung zur Impfung erhalten müssen. Natürlich habe ich bis heute noch nichts Ähnliches bekommen. Ein Anruf bei der Hotline der Berliner Senatsverwaltung erläuterte mir, dass im Gegensatz zu der Zusage der KV Berlin die Prioritätengruppe 4 noch gar nicht an der Reihe sei.

Okay, ich will jetzt nicht vom BER anfangen und mir dann ausrechnen, wann ich nach dieser Analogie vollständig geimpft sein werde, doch tatsächlich ertappe ich mich zunehmend eines aufkommenden Impfneids, wenn ich mitbekomme, wie in meinem Bekannten- und Freundeskreis plötzlich jeder über seine Netzwerke eine Impfung bekommen hat oder in Erwartung einer solchen ist: Mein Friseur über seinen befreundeten Arzt; ein Sammlerkollege aus Köln dto.; unsere Nachbarin durch ihren behandelnden Psychotherapeuten, die Kolumnistin Lea Streisand über ihre Freundin.

Um Missverständnisse zu vermeiden: JA, ich bin neidisch auf alle Geimpfte! Warum? Als Asthmatiker ist jede Erkältung für mich eine Herausforderung, jede Grippe fühlt sich wie eine Lungenentzündung an. Und JA, ich bin ein Hypochonder, aber ich habe auch allen Grund dafür. Als sich im Oktober andeutete, dass es bis Ende des Jahres 2020 einen Impfstoff geben werde, habe ich gejubelt und wollte zu den Ersten gehören, die eine Spritze bekommen, während mein gesamtes soziales Umfeld inkl. meiner Frau skeptisch war und verkündete, erst einmal abzuwarten, wie die ersten Geimpften den Stoff vertrügen. Ich führte mit meiner Gattin einen erbitterten Streit, drohte mit meiner Kündigung und einem sofortigen Auszug, wenn sie tatsächlich so verantwortungslos sein wolle, sich nicht impfen zu lassen.

Als Mitarbeiterin einer Krankenkasse wird sie nun vermutlich sogar VOR MIR geimpft und empfiehlt mir,  bei meiner Praxis mehr Druck zu machen. MEHR DRUCK… ha! Womit denn? Habe ich etwa Nacktfotos von meiner Ärztin mit einem Minderjährigen oder Scans ihrer vermeintlichen Bilanzfälschungen? Womit soll ich denn Druck machen können, wenn ich bereits vom Vorzimmerdrachen hinter der Glasscheibe emotionslos abgewatscht werde: „Frau Doktor bekommt nur sechs Impfdosen pro Woche! Meinen Sie wirklich, Sie sind so krank, dass Sie proirisiert werden müssten?“ Das höchste der Gefühle, das mir meine Ärztin anbieten konnte, war ein Attest, mit dem ich mich bei der besagten Hotline der Senatsverwaltung melden kann.

Wie es dort abläuft, brauche ich sicher nicht ausführlich zu beschreiben: Nachdem ich meinen Vor- und Nachnamen, letzteren dreimal inkl. des kaufmännischen Alphabets, buchstabiert, mein Geburtsdatum, meine Telefonnummer und den medizinischen Code meiner Erkrankung einer wildfremden Frau durchgegeben hatte, fragte ich, ob sie denn nicht auch meine Adresse notieren wolle. „Nein“, betonte sie, dafür werde sich in den nächsten Wochen jemand anderes bei mir melden. Der werde dann meine Adresse festhalten, dann bekäme ich einen Brief mit dem speziellen Terminbuchungscode und mit dem müsste ich mich dann beim Impfzentrum melden. Auf meine bescheidene Frage, wann das denn etwa wäre, konnte sie mir selbstredend keine Auskunft geben. Sie versicherte mir aber, dass alles von jetzt an seinen sozialistischen Gang gehe.

Seit diesem Telefonat schleppe ich mein Handy überall mit hin  – selbst auf die Toilette. Und wenn ich dusche, liegt es auf dem kleinen Schrank direkt am Fenster, an den ich notfalls herankomme, wenn ich nicht vorher in der Wanne ausgerutscht bin und mir das Genick gebrochen habe. Aber dann brauche ich ja auch keinen Impftermin mehr und jemand anderes mit guten sozialen Verbindungen kann sich über meinen nicht verwendeten Schuss freuen. In der Zwischenzeit versüße ich mir das Warten, indem ich mir auf DVD noch einmal den tanzenden Gene Kelly im Regen ansehe: Sein Lächeln hat etwas so Einnehmendes, dass ich mich schon beinahe geimpft fühle.