Ich sitze in einem kleinen Café in Prenzlauer Berg. Das Mobiliar scheint direkt vom Sperrmüll zu kommen – kein Stuhl, kein Tisch gleicht dem anderen. In die Sitzpolster haben sicher etliche DDR-Genossen ihre Biogase entweichen lassen. Vielleicht sind auch noch genetische Spuren früherer Blockwarte oder Gruppensturmführer nachzuweisen. Beim Versuch, mich irgendwie bequem in dem altersschwachen Sessel zu platzieren, wackelt mein vorderes Stuhlbein gefährlich. Ich beschließe, mich möglichst wenig zu bewegen. Anderen Gästen geht es nicht viel anders: Ich entdecke eine bekannte Kino-und Fernsehschauspielerin meines Jahrgangs, die sich arg verrenken muss, um mit ihrem Freund knutschen zu können, ohne dass der Stuhl zusammenbricht. Sie unterbrechen ihren Zungentango, um die Stabilität der Lehne zu überprüfen. Der Stuhl ist tatsächlich für solche Akrobatik ungeeignet, weshalb sich die Schauspielerin auf den Schoß ihres Partners setzt und mit der Oralfütterung fortfährt.

Ich bestelle einen Cappuccino und freue mich bereits auf dessen Genuss, weil meine eigene Espressomaschine seit einer Woche in Reparatur ist und ich mich vormittags mit der Bialetti arrangieren muss. Nebenan säugt eine Mutti ihr Neugeborenes und hat ein nagelneues Air-Book vor sich geöffnet. Ich denke mir: Wow, was für eine Powerfrau – stillen und gleichzeitig noch schreiben. Als ich mich vorsichtig zurücklehne, um einen Blick auf ihr Display zu wagen, knirscht mein Stuhl und verrät mich. Die junge Frau dreht sich irritiert zu mir, sodass ich nur einen kurzen Blick auf die Baby-Walz-Bestellung auf ihrem Bildschirm erhaschen kann, nun aber mit ihrer blanken Brustwarze konfrontiert werde. Beschämt wende ich mich sogleich meinem inzwischen eingetroffenen Cappuccino zu und versuche, die sich einstellende Analogie der Latte Art und dem eben Gesehenen schnell wieder aus meinem Kopf zu bekommen.

Was nicht allzu schwer fällt, denn während ich mein Notebook einschalte, werde ich aus meinem Gedankenkauderwelsch durch einen mir schräg gegenüber sitzenden US-Amerikaner gerissen, der in seiner Muttersprache ins Handy bzw. cell phone brüllt. An Arbeiten ist jetzt nicht zu denken, aber warum nehme ich auch immer optimistisch meinen Rechner mit ins Café? Normalerweise nur, um bei all den gut aussehenden, kreativen Thirtysomethings nicht aufzufallen, obgleich ich das mit meinem Proleten-Lenovo unter all den Appleianern sowieso nicht verhindern kann.  Naiv hatte ich heute gehofft, bei gutem Cappuccino etwas Muße zum Schreiben zu finden.

Doch selbst ein lokal recht bekannter Kolumnist, den ich zwei Plätze hinter dem Yankee entdecke und den ich sehr schätze, scheint es aufgegeben zu haben. Oder sammelt er nur neuen Stoff für seinen nächsten Wochenendbeitrag? Auffällig lauscht er dem transatlantischen Telefonat, während seine Begleitung auf ihn einredet. Der Bedienung geht offenbar das einseitige Gequatsche ebenfalls auf die nicht vorhandenen Nüsse, denn sie dreht die Musik lauter: Massive Attack mit Teardrop. Ob das als Warnung zu interpretieren ist oder die Stimmung der Kellnerin wiedergibt? Der Störenfried scheint es anders zu verstehen: Er empfindet plötzlich die laute Musik selbst als Störung, was er die Barista in perfektem Deutsch wissen lässt. Sie fügt sich dem Wunsch des Gastes, fängt aber dafür an, das Besteck aus der Spülmaschine auszuräumen, um es mit Schwung in den Besteckkasten zu werfen. Ich fühle mich an Gerüstbauer erinnert, die die Rohrkupplungsstangen vom dritten Stock in den Container werfen. Selbst das Bewerbungsgespräch, das vis-à-vis zwischen drei betont leger gekleideten Vierzigern (Hoodie, Designer-Jeans und Sneakers) stattfindet, wird mit einem entnervten Blick zum Tresen kurzfristig unterbrochen. Die Gruppe muss laut loslachen – die etwas angespannte Verhör-Atmosphäre scheint sich durch das Sabotage-Intermezzo spontan gelockert zu haben.

Warum müssen auch alle im Café arbeiten? Kann man nicht einmal nur herkommen, um Kaffee und Kuchen zu genießen? Wann hat das angefangen mit dem permanenten Zwang, möglichst beschäftigt zu wirken oder ist das alles nur eine Masche, um bloß nicht angesprochen und gestört zu werden? Ob das in anderen Städten auch so ist? Dieser Hang, ja nicht entspannt und beschäftigungslos zu wirken, während man den zarten Keksteig eines New York Cheesecake auf der Zunge zergehen lässt?

Letztes Jahr brachte mir meine Frau einen Ausschnitt aus einer Zeitung mit, in der ein Journalist über seine Begegnung mit einer Gruppe italienischer Touristen berichtete, die sich darüber wunderten, wozu es in deutschen Cafés einen freien WLAN-Zugang gäbe. Der Kolumnist versuchte ihnen die Vorteile zu erklären, dass man auf diese Weise mit dem Computer im Café arbeiten könne. Die Italiener waren reichlich amüsiert: Im Café arbeiten? Wozu das denn? Im Café trinke man einen Espresso, genieße ein bisschen Dolce und unterhalte sich mit Freunden und Bekannten. „Arbeiten im Café?“, lachten die Italiener, „ausgeschlossen!“

Recht haben sie, denke ich, tippe die letzten Zeilen in meinen Computer und schalte ihn aus. „Zahlen bitte!“, winke ich die Kellnerin heran. Ohne noch etwas zu tun zu haben, fühle ich mich plötzlich unwohl im Café. Zeit, nach Hause zu gehen…