Vater und Sohn

von Dirk Ryssel

Im Roman „Ein unmögliches Leben“ von Andrew Sean Greer stellt eine der Nebenfiguren seiner spießigen Nachbarin folgende provokante Frage: „Als Sie noch ein kleines Mädchen waren, Madam“, (…) er zeigte auf sie, „war das die Frau, die zu werden Sie sich immer erträumt haben?“

Ich bin mir nicht sicher, ob sich mein Vater jemals diese Frage gestellt hat. Wenn, dann nicht bewusst. Tatsache ist aber, er scheint bei anderen Menschen einen völlig anderen Eindruck hinterlassen zu haben als bei uns in der Familie. Mein Patenonkel, mit dem ich nach vierzig Jahren endlich wieder Kontakt habe, schrieb mir kürzlich, mein Vater sei der beste Trainer gewesen, den er je hatte. Sogar ein bisschen sein Psychologe und Freund. Wow, dachte ich: Offenbar kannten wir nur Mr. Hyde, während mein Patenonkel Dr. Jekyll kennenlernen durfte. Wenn mein Vater etwas garantiert nicht war, dann mein Psychologe. Und schon gar nicht mein Freund. Ich kann mich wirklich nicht an einen einzigen Rat erinnern, den er mir gegeben hat. Diese Rolle übernahm (und übernimmt bis heute) mein Bruder. Ob freiwillig oder der Situation geschuldet, kann ich nicht beurteilen.

Als ich kürzlich ein aktuelles Foto zugeschickt bekam, das meinen Vater im Altenheim mit meinen zwei Brüdern zeigte, war ich spontan überrascht. Ich dachte mir: Ist schon seltsam, wie ein Mensch im Alter seinen Schrecken verliert. Was ich sah, war nur noch ein alter Mann, und mir wurde plötzlich bewusst, dass ich Zeit meines Lebens immer Angst vor ihm hatte. Vor den harten Gesichtszügen, dem schmalen Mund und seinen kalten, stahlblauen Augen. Obwohl er mich, jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, nie geschlagen hat. Mich nicht, meine Brüder schon. Bei mir reichte das Abziehen seines Gürtels von der Hose, ein Anschnauzen, ja eigentlich schon sein böser Blick, um mich einzuschüchtern. Ich hatte genügend bei meinen Brüdern gesehen, um mir seine Kraft und Wut vorstellen zu können.

Nun muss ich fairerweise sagen, dass mein Vater kein Schläger war. Er hat nicht getrunken, was er ja wegen seiner Epilepsie, von der wir zwar alle wussten, aber über die wir nie sprechen durften, nicht konnte. Deshalb waren wir durch unsere Mutter soweit sensibilisiert, dass wir ahnten, wenn er ein Auge zukniff oder eine zusätzliche Tablette Comital L nahm, unter fürchterlichen Kopfschmerzen litt. Wir wussten sogar bereits als Kinder, dass unsere Mutter dann schnell mit ihm Sex haben musste, damit sein Hirn besser durchblutet würde. Weil das nur beim Koitus-Orgasmus der Fall war. Über all das informierte uns unsere Mutter.

Das war auch schon die ganze Bandbreite an Emotionen, die wir an ihm kennen lernten. Den Rat eines Freundes hätte ich gerne von ihm ab und an gehabt, allerdings muss ich gestehen, dass ich ihn nicht allzu oft danach gefragt habe. Was letztlich daran lag, dass er uns nie den Eindruck vermittelt hat, wir existierten überhaupt, geschweige denn, wären ihm wichtig. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, mussten wir ihn in Ruhe lassen: Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals freiwillig in unser Zimmer kam und uns gefragt hat, wie es in der Schule war. Ehrlich gesagt kann ich mich nicht erinnern, dass er mir überhaupt jemals eine Frage gestellt hat. Nicht einmal später, als ich längst ausgezogen war.

Ich weiß noch ziemlich gut wie mein Bruder im Alter von ca. 16 Jahren die Bremse seines Fahrrads reparierte – in einer Zeit, als es noch keine Feineinstellung gab und man in Ermangelung des richtigen Werkzeugs für die Justierung des Bowdenzugs gerne mal mehrere Stunden brauchte. Als mein Bruder am Abend unserem heimkommenden Vater stolz sein Werk präsentierte und ihn fragte, ob er das so richtig gemacht hätte, zog der ehemalige Ruderer aus Leibeskräften den Bremshebel zusammen, der daraufhin aus der Befestigungsschraube riss und antwortete – ohne seinen Gang zu verlangsamen – nur: „Nö!“, und ließ meinen Bruder mit seinem gescheiterten Nachmittagsprojekt frustriert zurück. Umso verblüffender ist der Eindruck, den mein Patenonkel von ihm hatte. Als ob vielleicht er sein richtiger Sohn war und wir hingegen nur seine Stiefsöhne.

Meine Brüder und ich haben viel darüber spekuliert, ob unser Vater vielleicht nicht anders konnte. Ob er möglicherweise autistisch war, Asperger-Syndrom hatte und uns deshalb keine Gefühle entgegenbrachte. Oder ob er in die Ehe mit unserer Mutter genötigt wurde und deshalb unglücklich war und seine Ablehnung gegen sie auf uns übertrug. Aber letztlich ist das alles egal: Es ändert nichts an dem Umstand, dass er war wie er war und dass wir mit dieser Gefühllosigkeit, dieser untauglichen Vorbildfunktion, die noch nicht einmal zu einem Negativ-Idol taugte, leben mussten und müssen. Und uns stattdessen andere Identifikationsfiguren suchten, an denen wir nur scheitern konnten: wie Atticus Finch in Harper Lees „Wer die Nachtigall stört“ oder seine kongeniale Verkörperung durch den Hollywood-Schauspieler Gregory Peck.

Kürzlich habe ich meinen Sohn um etwas Milde gebeten, als ich mich mal wieder daneben benommen hatte: Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass ich leider kein besonders guter Vater bin, weil ich aus dem Nichts schöpfe und mitunter in fiktive Charaktere meiner Lieblingsfilme schlüpfen muss, da ich nicht intuitiv weiß, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll.  Manchmal funktioniert dieses Rollenspiel ganz gut, aber oft entwickeln sich Situationen anders als in einem Hollywood-Film. Dann kann man nur scheitern, wenn man einen in sich ruhenden, rationalen Atticus Finch mimt, in Wirklichkeit aber nervös, verletzlich und cholerisch ist.

Nun ja, egal, ich will hier nicht durchs Jammertal wandern. Mein Vater ist Ende letzten Monats gestorben, aber obwohl ich sehr tief in mich hineinhöre und -fühle, ist da nichts, rein gar nichts, was ich empfinde außer einer unendlichen Leere. Als ob sich irgendein Fremder auf Nimmerwiedersehen verabschiedet hätte. Nachdem er in meiner gesamten Kindheit, Jugend und Adoleszenz emotional abwesend war, hat er sich im Alter auch noch geistig abgemeldet, sodass der körperliche Abschied nur einer kausallogischen Konsequenz folgte.

So long, Dad. Ich hoffe, da, wo du jetzt hingegangen bist, fühlst du dich wohler.