Sommer in der Stadt

von Dirk Ryssel

Ein Freund von mir lebt in einer Kleinstadt in der Nähe von Heidelberg. Ich bin noch nie dort gewesen, aber so, wie er es mir beschreibt, scheint es dort sehr idyllisch zu sein. Er hat ein Haus mit einem Garten, sodass ich es gut nachempfinden kann, dass er ein Sommer-Fan ist, weil er in dieser Saison viel Zeit im Freien verbringt: Auf der Terrasse mit den Großeltern, im Freibad mit den Kindern, im Biergarten mit Freunden. Dieser Sommer war ganz nach seinem Gusto, und wenn es nach ihm ginge, könnte es ewig so weitergehen.

Leider kann ich seine Vorliebe nicht teilen. In Berlin bedeutet Sommer nur eine weitere Herausforderung unserer fünf Sinne: In den Bahnen, Bussen und Straßen wird man mit Menschen zusammengepfercht, deren Körperhygiene eher der Steinzeit als einer Gegenwart entspricht, in der der freie Zugang zu Seife und Dusche eigentlich Realität sein sollte. Mir scheint sogar, dass es neuerdings en vogue ist, nichts gegen seine Körpergerüche zu unternehmen: Das gilt offenbar als etwas „ganz Natürliches“…

Auf einer Geburtstagsfeier im Schlosspark, zu der ich kürzlich eingeladen war, unterhielt ich mich mit einem netten, gut aussehenden, jungen Mann, dessen Schweißdrüsen schon in der vergangenen Nacht kollabiert haben müssen: Er roch, als ob er sich auf einer römischen Orgie vorausgabt hätte. Als ich den Blick nach unten wandte, damit er meine reflexiven Gesichtsregungen nicht bemerkt, brachte mich der Anblick seiner behaarten Hobbitfüße schier um den Verstand: Ich wünschte mir sehnlichst einen Schneesturm herbei, um diese podologische Versündigung nicht länger ansehen zu müssen.

Wie zu keiner anderen Jahreszeit wird man gerade im Sommer mit der ganzen Palette unterschiedlicher Nagelpilze konfrontiert – ob man will oder nicht. Mir war vor meinem 30 Jahren zurückliegenden Zuzug nach Berlin nicht bewusst, wie viel Hornhaut man an den Füßen haben kann. Wirklich: Es gibt doch inzwischen auch in Deutschland Sandalen, die vorne geschlossen sind – Tennissocken sind nicht wirklich eine ästhetische Alternative für mangelnde Pediküre.

Hinzu kommt der sich in den letzten Jahren geradezu explosionsartig verbreitete Trend, sich den Körper mit allerlei Schmierereien zu verunstalten. In Berlin ist mindestens jeder Zweite tätowiert; unter jungen Leuten liegt die Quote sicher bei 80 Prozent. Und so muss man gerade zur warmen Jahreszeit allerorts die missglückten Resultate zweifelhafter Selfmade-Künstler, seien es nun irgendwelche Fantasy-Ungeheuer, nordische Runen, esoterische Glückkekssprüche, blödsinnige Klöppelmuster, die eher an Tischdecken als an menschliche Haut erinnern, oder ganz trendy sind jetzt Spinnennetze auf den Oberflächen der wandelnden Litfaßsäulen. Am schlimmsten ist es noch im Schwimmbad, wenn man dann gleich Vor- und Rückseite lesen muss und sich nur dann wegen öffentlichen Ärgernisses beschweren darf, wenn der Badegast auf dem Rücken ein KZ tätowiert hat.

Apropos Schwimmbad: Freut man sich in Berlin das gesamte Winterjahr darauf, sich während der heißen Jahreszeit ein bisschen am Beckenrand abkühlen zu können, wird man bereits bei der Ankunft desillusioniert. Man muss schon bereit sein, anderthalb Stunden in der Schlange zu schmoren, bevor man sich mit tausend anderen Gästen um die wenigen Wiesenplätze schlägt: Denn gerade an Sonntagen hat um die frühe Mittagszeit stets nur eine Kasse geöffnet. Stattdessen gibt es vorab eine Taschenkontrolle, damit die Wartezeit nicht zu langweilig wird. Diese ist zwar nach den Zwischenfällen der vergangenen Jahre sinnvoll, hält aber keinen Südländer davon ab, mit einer martialischen Arschbombe den Hardcore-Schwimmern vor die Rübe zu springen. In diesem Jahr hat eines dieser Sprungtiere das zarte Bein meines Sohnes so sehr verletzt, dass davon eine Narbe geblieben ist. Ich will mir lieber nicht vorstellen, was für Fußnägel der Typ gehabt haben muss.

Sommer in der Stadt und insb. in der Hauptstadt ist wirklich in jeglicher Hinsicht nichts für Weicheier: Obwohl im (angeblich) bürgerlichen Pankow wohnhaft, bin ich selbst in den tropischen Sommernächten, in denen die Temperatur kaum unter 25 Grad sinkt, gezwungen, mit geschlossenem Fenster zu schlafen. Wenn man dieses Delirium überhaupt Schlaf nennen kann. Denn die warmen Nächte scheinen für alle nachtaktiven Mitmenschen geradezu eine Einladung zu sein, sich bis zum Morgengrauen amüsante Anekdoten – vermutlich von heroischen Sauftouren und ihren Folgen – zu erzählen, die immer wieder zu frenetischen Lachsalven führen. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn man in einem Sauna ähnlichen Klima im Bett liegt und zum vierten Mal versucht, in den Halbschlaf zu sinken, aber kurz vor dem Eintritt in die Träumewelt von einem hysterischen Gebrüll hochgeschreckt wird? Da entwickelt man schnell Mordfantasien…

Das einzig Synonyme an Stadt und Land ist, dass Cidre und Bier im Sommer natürlich deutlich besser als im Winter schmecken. Dennoch bin ich dem Wettergott so dankbar, dass er den Sommer nun schlagartig beendet hat: Endlich kann ich wieder durchatmen, endlich wieder ruhig schlafen, endlich tragen meine Mitbürger wieder Schuhe UND Strümpfe, und die Zeit der Tank- und Spaghetti-Tops ist vorerst ebenfalls vorbei. Bis dann bald der Regen und Schneematsch die Gesichter der Berliner wieder ins Finstere verfärbt und die Steppmäntel-Saison jeden Zweiten wie ein Michelin-Männchen aussehen lässt. Leider auch nicht viel besser…