Eddies Weihnachten

von Dirk Ryssel

Ich habe diese Geschichte von meinem Freund Eddie. Er beteuert, dass sie sich genau so zugetragen hat, und ich habe keinen Grund daran zu zweifeln.

Es ist schon mehr als ein Jahr her, dass ich auf dieser Seite etwas veröffentlicht habe. Nicht, dass ich keine Lust mehr hätte oder zu faul wäre. Ich hatte zu viel zu tun und daher keine Inspiration für Neues. Dass mich das gerade zum Jahresende deprimiert, kann man sich bestimmt vorstellen.

In dieser Stimmung war ich neulich unterwegs, um meinen neuen Pass zu beantragen, als ich einen alten Bekannten auf der Straße traf: „Na, das ist ja mal ein Zufall“, platzte ich freudig heraus. „Zufälle gibt es nicht!“, konterte Eddie, den ich fast nicht erkannt hätte, so alt war er inzwischen geworden. Da ich zunächst eine Warte-Marke ziehen wollte, schlug ich vor, einen Kaffee im Rathaus trinken. Der nicht gerade wählerische Eddie war einverstanden, und so setzten wir uns mit unseren Plastikbechern vom Automaten in einen Raum, in dem alle Stühle in eine Richtung standen: Mit Blick auf die Monitore, auf denen die Warte-Nummern mit den zuständigen Bearbeitungsplätzen und Zimmern angezeigt werden.

Wir unterhielten uns darüber, was wir in diesem Jahr gemacht hätten, und ich klagte ihm mein Leid über meine mangelnde Kreativität. „Wieso meinst du, dass es keine Zufälle gibt?“, fragte ich ihn. Er lächelte mich ein bisschen diabolisch an: „Etwas fällt uns zu, weil es fällig ist!“ Er bemerkte meinen skeptischen Blick: „Darf ich dir eine kurze Geschichte erzählen?“ Ich sah auf den Bildschirm an der Wand gegenüber und überschlug die 28 Antragsteller, die vor mir drankämen: „Nichts lieber als das“, forderte ich ihn auf und so begann er, mir von einer Begegnung zu erzählen, die sich angeblich genau so am 24.12.2019 zugetragen habe. Weiter lesen

Unsere Jungs

von Dirk Ryssel

Als vor 15 Jahren unser Sohn geboren wurde, versicherte uns eine gute Freundin, dass wir diesen Jungen nun für immer behalten würden.

Sie hat sich geirrt! Er ist bereits nach drei Jahren ausgezogen. Ich hatte es anfangs gar nicht bemerkt. Erst als ich feststellte, dass meine Frau keine Windeln mehr kaufte, wurde mir klar, unser Baby war spurlos verschwunden.

Stattdessen wohnte plötzlich ein Kleinkind bei uns, das in einem Affenzahn durch die Wohnung robbte und anstatt ständig zu weinen oder zu krähen, sich zu verständigen versuchte. Wenn es etwas haben wollte, streckte es den Arm danach aus und gab einen stöhnenden Laut von sich, als ob es eine Zehnkilohantel stemmte. Wenn es einen Fisch in einem Aquarium entdeckte, erregte es die Aufmerksamkeit, in dem es auf ihn zeigend den Mund auf- und zumachte, um uns zu vermitteln, dass es den lebendigen Fisch mit der vor Tagen im Buch gesehenen Zeichnung durchaus kongruent zu setzen wusste.

Irgendwann war auch dieses Kind leider abgehauen. Weiter lesen

Gendern als Leckerli

von Dirk Ryssel

Kürzlich hatten wir Besuch von zwei Freunden unseres Sohns…, oh pardon,… von zwei Freund*Innen. Denn genau genommen waren es ein Mädchen und ein Junge. Nebenbei bemerkt: In Frankreich, wo ich mich gerade beim Verfassen dieser Zeilen befinde, wird diesbezüglich übrigens kein Unterschied gemacht. Im Gegenteil: Wenn unter 100 Frauen nur ein Mann anwesend ist, wird die männliche Pluralform genommen, also „les amis de mon fils“ und nicht „les amies de mon fils“ verwendet. Auch nicht gerecht, aber offenbar sind die Französinnen etwas dickhäutiger als die Deutsch*Innen. Egal. Während des Gesprächs beim Essen wunderte ich mich, dass der Freund unseres Sohns, ach ja, ich vergaß, ich habe ihn ja schon mal vor Jahren erwähnt, nennen wir ihn also wieder Jonas, neuerdings genderte. Unser Sohn, politisch inkorrekt wie sein Vater, informierte ihn darüber, dass in unserem Hause nicht gegendert werde. Selbstverständlich korrigierte ich sofort meinen Sohn mit dem Hinweis, dass bei uns nicht gegendert werden müsse, wenn er aber selbst gerne gendere, könne er dies selbstverständlich tun.

Daraufhin entbrach zunächst einmal das übliche Gezeter über Sinn und Unsinn des Genderns, ob nun aus semantischer, grammatikalischer oder etymologischer Sicht. Mein Sohn erinnerte daran, dass nicht etwa alte, weiße deutsche Männer das generische Maskulinum eingeführt hätten, sondern bereits die Lateiner, also die Römer. Obwohl Jonas in der Schule Altgriechisch lernt, konnte er die Herkunft des generischen Maskulinums leider nicht den Griechen zuschieben, sodass diese Frage vorerst ungeklärt blieb. Dennoch schlug er eine Bresche fürs Gendern, weil damit ja schließlich die Frauenrechte „adäquat“ (nicht von mir!) verteidigt würden, worauf er ein lautes Aufstöhnen meines Sohns und einen total verliebten Blick des jungen Mädchens erhielt. Weiter lesen

Schwaben

von Dirk Ryssel

Ich muss hier mal eine Bresche für die Schwaben schlagen. Zugegeben nach einer knappen Woche kulinarischer Bestechung durch meine Tante mit Sauerbraten, Rindsrouladen, Gaisburger Marsch und den obligatorischen Maultaschen fällt mir das nicht sonderlich schwer. Vielleicht wäre noch die Offenheit und Freundlichkeit, der ich in meiner Geburtsheimat begegnet bin, zu erwähnen. Ja, ich gebe es offen zu: Ich bin ein gebürtiger Schwabe. Na und? In Berlin wird man ja selbst nach 33 Jahren noch nicht als Berliner akzeptiert. Nur als Rucksack-Berliner, weil man hier nicht geboren wurde. In der Hauptstadt gilt und galt schon vor der Geburtsrechtsreform der Bundesrepublik das Boden- vor dem Blutrecht. Denn nach Letzterem wäre ich mit zwei gebürtigen Berlinerinnen als Vorfahren, nämlich meiner Mutter und Großmutter, ein so was von echter und reinrassiger Berliner, dass ein „reigeschmeckter“ Prenzlberger wie Wolfgang Thierse vor mir noch den Diener machen müsste.

Apropos Thierse: Natürlich wurde ich von meiner Verwandtschaft auf den sogenannten „Spätzlestreit“ angesprochen, auf dessen Höhepunkt die Spaßguerilla „Free Schwabylon“ das Käthe-Kollwitz-Denkmal in Berlin Prenzlauer Berg mit Spätzle bewarf und sich der frühere Bundestagspräsident über die schwäbischen Wecken und Pflaumendatschi in „seinem“ Bezirk mokierte. Ehrlich gesagt konnte ich ad hoc dazu gar nichts sagen, weil mich dieses identitäre „Geschwätz“ um Ur-Berliner und eingewanderte Yuppie-Berliner nie sonderlich interessiert hat. Berlin war immer schon eine Stadt, die sich zum großen Teil aus Zuwanderern konstituiert hat und von diesen verändert wurde. Der Berliner Dialekt bediente sich seit jeher von Spracheinflüssen aus dem Flämischen, Rotwelschen, dem Slawischen und dem Jiddischen. Die von Thierse geforderte Schrippe wird zwar seit dem 18. Jahrhundert als berlinerisch verbürgt – ehrlich gesagt bin ich aber froh, dass es inzwischen auch Semmeln, Croissants, Baguettes und eben auch Wecken oder Weckle gibt. Es lebe die Vielfalt, denn die galt schon immer als das besondere Merkmal in der zum Glück nicht mehr ganz so preußischen Metropole. Weiter lesen

Bärte

von Dirk Ryssel

 Als ich kürzlich in der Drogerie auf der Suche nach einer Frisiercreme war, staunte ich nicht schlecht: Ich fand ein ganzes Zweimeter-Regal voller Herren-Pflegeprodukte. Zugegeben, mir ist es nach wie vor peinlich insb. in meinem fortgeschrittenen Alter, irgendwelche Kosmetika abgesehen von Rasierwasser, Deo und Kernseife zu kaufen. Meist packe ich, wenn ich einen Haarschaum gegen den Gelbstich in meinem weißen Haar kaufe, noch zusätzlich ein paar Produkte für meine Frau in den Wagen. Und an der Kasse studiere ich dann ganz konzentriert den Einkaufszettel, damit es so aussieht, als ob ich sämtliche Schönheitsmittel nur für die Gattin und keineswegs für mich besorge. Doch meine Scham vor allzu auffälliger Eitelkeit scheint angesichts der Vielzahl von Hilfsmitteln für das Antlitz des modernen Gentleman vollkommen obsolet zu sein.

Vor allem die Bart-Optimierer erweckten meine Aufmerksamkeit: Ein einfacher Läusekamm reicht für den ganzjährigen Nikolaus nicht mehr aus. Da gibt es Bart-Shampoos und, damit das Zottelgeflecht um den Kussmund SIE nicht kitzelt, spezielle Bartöle und  Conditioner für mehr Volumen, Bartwichse für ausgefallene Skulpturen, Duftwässerchen, um den tranigen Geruch zu vertreiben sowie professionelles Trimmwerk für die individuelle und millimetergenaue Skalierung der Gesichtsbehaarung. Es gibt sogar teure Haarwuchsmittel mit Minoxidil für die dichte Beforstung der Backenlefzen. Das Absurde ist: Im selben Regal finden sich Fünfklingenrasierer und Enthaarungscremes zur vollständigen Entfernung des Körperfells. Weiter lesen

Impfneid

von Dirk Ryssel

Es regnet. Ich tänzle durch die Straße, springe in die Luft und schlage dabei die Hacken zusammen. Ich steppe den Bordstein herauf und herunter. Ich umfasse einen Laternenpfahl, klettere zur Hälfte nach oben und drehe mich im Kreis. Ich springe in eine Pfütze und erfreue mich des Wassers, das hochspritzt. Plötzlich steht ein Kontaktbereichsbeamter vor mir. Ich strahle ihn an und verkünde stolz: „Ich bin geimpft!“. Er schnauzt mich an: „Aufstehen! Es ist bereits kurz nach acht!“

Meine Frau stratzt auf den klackernden Gummisohlen ihrer Hausschuhe durchs Schlafzimmer und reißt die Vorhänge und kurz danach das Fenster auf. Es wird schlagartig kalt. Das Einzige, was aus meinem Traum übrig geblieben ist, ist der Regen, dessen Pladdern auf dem Fensterbrett ich als meinen Stepptanz verarbeitet habe. Ich sehe mich im Zimmer um und entdecke an meiner Wand ein altes gerahmtes Standfoto aus „Singin‘ in the Rain“. Allmählich desillusionieren sich die einzelnen Versatzstücke meines Wunschtraums.

Es ist Anfang Mai, und ich bin noch nicht geimpft. Nicht einmal einen Termin oder einen Startplatz auf irgendeiner Warteliste konnte ich erlangen. Ich bin Asthmatiker. Laut Impfpriorisierung der KV Berlin hätte ich bis zum 12. April 2021 eine Einladung zur Impfung erhalten müssen. Natürlich habe ich bis heute noch nichts Ähnliches bekommen. Ein Anruf bei der Hotline der Berliner Senatsverwaltung erläuterte mir, dass im Gegensatz zu der Zusage der KV Berlin die Prioritätengruppe 4 noch gar nicht an der Reihe sei. Weiter lesen

Vater und Sohn

von Dirk Ryssel

Im Roman „Ein unmögliches Leben“ von Andrew Sean Greer stellt eine der Nebenfiguren seiner spießigen Nachbarin folgende provokante Frage: „Als Sie noch ein kleines Mädchen waren, Madam“, (…) er zeigte auf sie, „war das die Frau, die zu werden Sie sich immer erträumt haben?“

Ich bin mir nicht sicher, ob sich mein Vater jemals diese Frage gestellt hat. Wenn, dann nicht bewusst. Tatsache ist aber, er scheint bei anderen Menschen einen völlig anderen Eindruck hinterlassen zu haben als bei uns in der Familie. Mein Patenonkel, mit dem ich nach vierzig Jahren endlich wieder Kontakt habe, schrieb mir kürzlich, mein Vater sei der beste Trainer gewesen, den er je hatte. Sogar ein bisschen sein Psychologe und Freund. Wow, dachte ich: Offenbar kannten wir nur Mr. Hyde, während mein Patenonkel Dr. Jekyll kennenlernen durfte. Wenn mein Vater etwas garantiert nicht war, dann mein Psychologe. Und schon gar nicht mein Freund. Ich kann mich wirklich nicht an einen einzigen Rat erinnern, den er mir gegeben hat. Diese Rolle übernahm (und übernimmt bis heute) mein Bruder. Ob freiwillig oder der Situation geschuldet, kann ich nicht beurteilen.

Als ich kürzlich ein aktuelles Foto zugeschickt bekam, das meinen Vater im Altenheim mit meinen zwei Brüdern zeigte, war ich spontan überrascht. Ich dachte mir: Ist schon seltsam, wie ein Mensch im Alter seinen Schrecken verliert. Was ich sah, war nur noch ein alter Mann, und mir wurde plötzlich bewusst, dass ich Zeit meines Lebens immer Angst vor ihm hatte. Vor den harten Gesichtszügen, dem schmalen Mund und seinen kalten, stahlblauen Augen. Obwohl er mich, jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, nie geschlagen hat. Mich nicht, meine Brüder schon. Bei mir reichte das Abziehen seines Gürtels von der Hose, ein Anschnauzen, ja eigentlich schon sein böser Blick, um mich einzuschüchtern. Ich hatte genügend bei meinen Brüdern gesehen, um mir seine Kraft und Wut vorstellen zu können. Weiter lesen

Silvester

von Dirk Ryssel

Wenn es ein Fest gibt, das man meines Erachtens sofort abschaffen könnte, dann ist es Silvester! Ich meine, mal ganz ehrlich, wer denkt am Jahreswechsel schon an den heiligen Papst Silvester I., dessen Todestag am 31.12.335 wir das zwanghafte Abfeiern des Saisonendes zu verdanken haben? Vermutlich niemand außer dem noch lebenden Papst. Ansonsten dient der letzte Tag im Jahr doch nur als Blankoschein für haltlose Besäufnisse, die sogar den Vatertag wie eine Abstinenzkur dastehen lassen. Und diesem alkoholischen Übereifer sei Dank, dass die Ambulanzen der Krankenhäuser an jedem 31.12. Hochbetrieb feiern wie nach einem Fliegerangriff zu Kriegszeiten. Wobei die Abduktionen von Hand- und Gesichtsteilen in den meisten Fällen durch Autoaggression statt durch Fremdeinwirkung vollzogen werden.

In glimpflichen Fällen werden neuneinhalb Monate später die Kreissäle gestürmt, weil der Alkohol zwar das lendische Kribbeln erhöht, aber die Kontrolle beim „ich pass‘ doch auf, Schätzchen“ hemmt. Vielleicht liegt darin ja der eigentliche christliche Urgedanke dieser alljährlichen Feiertradition – schließlich mehren sich der Statistik zufolge gerade die verklemmten Bildungsbürger zu wenig. Und ab einem gewissen Alter muss man sich den Schlafzimmermitbewohner wohl allmählich schön trinken. Aber wer braucht jenseits des bereits erfüllten irdischen Auftrags zur Reproduktion der eigenen Gene sowie jenseits der Menopause noch einen vordiktierten Anlass zum Partymachen? Silvester ist doch wenn überhaupt nur für das Jungvolk eine offizielle elterliche Erlaubnis zum kollektiven Besäufnis. Während bei unsereins die einst vermeintlich athletischen Extremitäten auch ohne Alkohol nicht mehr so funktionieren wie im fruchtbaren Lebensstadium. Weiter lesen

Durchgendern

von Dirk Ryssel

In den  1990er Jahren, als ich noch studierte, ging es damit los: Das Anhängen eines „Innen“ an jede in der Mehrzahl genannte Gattung, das die maskulistisch geprägte Grammatik aufdecken und die biologische Diversität hervorheben sollte. Wir hatten damals einen Professor, der sich spürbar bemühte, diesen neuen Kodex einzuhalten, indem er entweder vor jedem „Innen“ seinen Mund so weit spreizte, dass man die Brücken des achten Zahns auch in der letzten Reihe des Seminarraums noch sehen konnte. Oder aber, sollte er die neudeutsche Endung mal vergessen haben, schnell ein „geschlechtsunspezifisch“ hinter jedes generische Maskulinum einfügte. Seine vermeintlich politische Korrektheit hinderte ihn jedoch nicht daran, geschlechtsunspezifisch immer wieder Studenten vor dem gesamten Plenum herunterzuputzen, wenn er mit ihren Ausführungen nicht zufrieden war.

Seltsamerweise war das Gender-Mainstreaming fast zwanzig Jahre aus der Mode gekommen, aber mir scheint, seit der #MeToo-Debatte hat es neuen Aufwind bekommen. Neuerdings halten die Moderatorinnen und Moderatoren bei meinem Lieblingssender Radioeins vom RBB nach jedem grammatikalisch maskulinen Wort eine rhetorische Pause von einer Achtelsekunde ein, um anschließend mit einem „Innen“ das feminine Genus hinzuzufügen. Als Lektor bluten mir nicht nur wegen der grammatikalisch falschen Wortbildung die Ohren, auch jeder klassische Rhetoriker wird sich vermutlich wegen dieser künstlichen Synkope seine Fingernägel zerkauen. So wurde bezüglich der Corona-Maßnahmen kürzlich von einem Treffen der Regierungschef(Achtel-Pause!)Innen“ gesprochen, damit uns auch bewusst ist, dass in dieser Führungsriege nicht nur Männer das Sagen haben, sondern mit Manuela Schwesig und Malu Dreyer auch zwei Frauen in der Testosteron-Liga vertreten sind. Weil es für den Nachrichtenwert, in dem es um die beschlossenen Maßnahmen zur Covid19-Bekämpfung ging, von so entscheidender Relevanz ist, ob die Entscheider ihr Gehänge oben- oder untenherum haben. Ehrlich gesagt, ich habe vorher überhaupt keinen Gedanken darüber verschwendet, ob dort Männer, Frauen oder Außerirdische in der Exekutive sitzen: Mich interessierte einzig und allein ihre Politik und ihr Schaffen. Das Problem war vielmehr, dass ich erst durch die Genus-Separation in meiner Aufmerksamkeit unterbrochen wurde, weil ich darüber nachdachte, wer von den Ministerpräsident(Achtel-Pause!)Innen eine Frau ist. Weiter lesen

Wohlstandskinder

von Dirk Ryssel

Wenn ich nachts in das Zimmer meines Sohnes schleiche, um seine Musikanlage auszuschalten und dabei mindestens zweimal auf eine scharfkantige Lego- oder eine spitze Superzings-Figur trete, möchte ich zwar lieber schreien als darüber zu philosophieren, ob unsere heutigen Wohlstandskinder nicht von allem ein bisschen zu viel haben. Aber eigentlich kann ich ihm gar keinen Vorwurf machen, denn wie er mich zu Recht darauf hinweist, sind alle seine Schränke bereits voll. Aber ihn zum Ausmisten zu bitten, ist ungefähr so erfolgsversprechend wie bei einem Messie: Am Ende kommen von 10 Kubikmetern Spielsachen vielleicht zwei kleine Ü-Ei-Figuren zum Vorschein, die weggeworfen oder großzügig verschenkt werden dürfen. Um wenig später zu jammern, dass ich ihn gezwungen hätte, seine beiden Lieblingsspielzeuge wegzugeben…

Ich habe es mit allen Argumenten und pädagogischen Maßnahmen versucht, meinen Sohn von seiner Überfluss-Konsumhaltung abzubringen. Vergebens! Manchmal schwinge ich sogar die Greta-Thunberg-Keule, aber auch das bleibt ohne Erfolg, obwohl wir gemeinsam für schärfere Klimagesetze und Umweltschutz demonstriert haben. Und wenn ich ihm von meinen vergleichsweise wenigen Spielzeugen in meiner Kindheit erzähle, unterbricht er mich mit den Worten: „Oh nein, nicht schon wieder eine Geschichte aus dem Mittelalter!“ Vergleichbares habe ich früher zu meinen Eltern gesagt, wenn sie mir von ihrer Kindheit erzählten: „14-18-Storys“ nannte ich ihre Erlebnisse – obgleich sie vom 2. Weltkrieg handelten. Weiter lesen

Jammern auf hohem Niveau

von Dirk Ryssel

Ich kann es ehrlich gesagt nicht mehr hören… oder lesen… dieses ewige Gejammer! Wie schlimm doch die Corona-Krise sei. Wie sehr sie uns in unserem Leben beeinträchtigt und einschränkt! Wie sehr wir unter den Reglements leiden… Jetzt demonstrieren sogar Hunderte von Deppen und fordern die Abschaffung der „Maskenpflicht“, weil sie das in ihrer Freiheit einschränke.  BULLSHIT! Was sind wir doch alles für Memmen, Weicheier und Heuchler!

Ja, Corona ist schlimm! Eine lebensgefährliche Krankheit, die vor allem für Menschen mit Vorerkrankungen heftig und bedrohlich verlaufen kann. Ja, es sind bereits viele Menschen daran gestorben, und es werden daran noch viele Menschen sterben. Ich will das gar nicht kleinreden, und ich wünsche wirklich niemandem, dass er an Covid-19 erkrankt. Aber im Unterschied zum Rest der Welt geht es uns Deutschen blendend! Selbst im europäischen Vergleich stehen wir bestens da: Wir hatten keine wirklichen Ausgangssperren wie in Italien oder Frankreich, wo man für jedes Verlassen der Wohnung ein Zertifikat ausdrucken und ausfüllen musste, um zu belegen, zu welchem Zweck man wohin wollte. Hatte man so einen Schrieb nicht dabei und wurde erwischt, was angesichts der hohen Polizeipräsenz in beiden Ländern sehr wahrscheinlich war, hagelte es deftige Strafen. Weiter lesen

Abstand

von Dirk Ryssel

Was ist eigentlich so schwer daran, Abstand zu seinen Mitmenschen einzuhalten? Leben wir in Sardinenbüchsen und haben keine Ausweichmöglichkeiten? Müssen wir mit 100.000 anderen den letzten Zug in Kalkutta bekommen oder mit ebenso vielen um einen Liter Wasser für unsere Familie anstehen? Herrscht hier Versorgungsnot und müssen wir bereits hungern? Nein, no,  njet – nichts von alldem. Das einzige Problem, dass wir gesunde Männer momentan haben, ist die Nähe. Aber das haben wir ja angeblich schon immer.

Ich weiß, die Straßen sind trotz der Ausgangsbeschränkungen voll und die Supermarktgänge eng. Aber rasen wir in einer schmalen Straße auf ein entgegenkommendes Auto zu, wenn wir wissen, wir kommen nicht ohne hässliche Kratzer und Beulen an ihm vorbei? Offenbar ist uns unser Auto immer noch wichtiger als unsere Gesundheit. Denn auch zu Fuß insb. in den Schluchten der Einkaufshalle gibt es genügend Gründe, aufmerksam zu sein, und wenn es mal eng wird, anderen den Vortritt zu lassen. Man nennt das nonverbale Kommunikation, glaube ich. Im Autorverkehr ist sie unerlässlich, um unfallfrei ans Ziel zu kommen. Sie ist zudem komplett virenfrei – man muss sein Gegenüber nur wahrnehmen. Weiter lesen

Hoffnung

von Dirk Ryssel

Wenn wir in ein paar Jahren über die Corona-Krise resümieren, werden wir uns daran erinnern, dass sich die Italiener während der Ausgangssperre gegenseitig vom Fenster aus Musik vorspielten, um das Bedürfnis ihrer ebenso eingesperrten Nachbarn nach ein bisschen Kultur und Unterhaltung zu befriedigen. Und dass in den Amour- bzw. Amore-Ländern Frankreich und Italien das Home-Office offenbar nicht langweilig wurde, schoss doch zu dieser Zeit der Online-Absatz von Sextoys signifikant in die Höhe. Vermutlich auch, dass der französische Luxuskonzern LVMH, der gewöhnlich Parfums für Louis Vuitton, Givenchy oder Dior produziert, seine Produktion komplett auf Desinfektionsmittel umstellte, um diese kostenfrei Kliniken und Krankenhäusern zu spenden. Ganz sicher, dass sich die Spanier jeden Abend auf den Balkon stellten und applaudierten, um somit dem unvergleichlichen Einsatz des Klinikpersonals, also jenen Ärzten, Krankenschwestern und -pflegern zu danken, die sich für sie und ihre geliebten Mitmenschen Tag und Nacht einsetzten. Man wird sich an Länder wie Nordirland und Norwegen entsinnen, die als erste besondere Öffnungszeiten in den Supermärkten für ihre älteren Mitmenschen eingerichtet haben, um diese besonders gefährdete Zielgruppe vor dem großen Ansturm zu schützen. Und man wird sich ins Gedächtnis rufen, dass der Staatschef sowie sämtliche Minister und Abgeordnete auf ein Monatsgehalt verzichteten – zugunsten der sogenannten Helden der Corona-Front: Krankenschwestern, Putzkräften, Taxifahrern. Nicht in Deutschland, nein, in Singapur. Weiter lesen

Angst

von Dirk Ryssel

Als die Discounter-Kette Aldi überraschend ankündigt, am nächsten Tag Desinfektionsmittel im Sortiment zu haben, sind die Parkplätze überfüllt und die Menschen stehen wieder Schlange wie in den 1990er Jahren, als die ersten Medion-Computer angeboten wurden. Ähnlich wie damals sind die Artikel binnen weniger Minuten ausverkauft, nachdem es zuvor zu Rangeleien und mehr oder weniger handgreiflichen Auseinandersetzungen kommt.

Dieses Ereignis wirft mehrere Fragen auf: Handelte es sich bei den Kunden um Ärzte und Klinikpersonal, denen zuvor die Desinfektionsmittel gestohlen wurden, oder wollen die Kunden damit ihre frisch geputzten Fahrzeuge sterilisieren, um sich hinterher bei Tempo 180 Km/h auf der Autobahn totzufahren? Ein kleiner statistischer Einwurf dazu: 2019 hatten wir in Deutschland mehr als 3.000 Verkehrstote. Das sind zwar gut 200 weniger als 2018, aber hat deshalb jemand auf sein Auto verzichtet oder vor dem Auto im Entferntesten eine solche Angst gehabt wie derzeit vor dem Corona-Virus?

Die zweite Frage, die sich mir aufdrängt, betrifft den Anbieter selbst: Woher hat Aldi plötzlich diese Paletten an Desinfektionsmittel her, wenn selbst Arztpraxen und Krankenhäuser kaum Nachschub bekommen? Hatten sie die Artikel etwa im Keller bebunkert und nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, diese anzubieten? Oder haben sie eine neue Quelle entdeckt, und wenn ja, warum bieten sie diese nicht zuerst den staatlichen Stellen an, die sie am dringendsten brauchen? Weiter lesen

Negatives

von Dirk Ryssel

Seit einiger Zeit wird mir nachgesagt, meine Kolumnen seien so negativ. Das verstehe ich nicht. Wie könnte mir in meiner 14-Zimmer-Villa je etwas Negatives einfallen? Wenn ich aus dem Fenster sehe, erfreue ich mich an den pittoresken Fliederblütenblättern, die meine Kieseinfahrt schmücken, an deren Ende mein alter Aston Martin DB5 neben meinem Volvo P1800 glänzt. Selbst an meinem Gärtner, der gerade meine Buchsbaum-Skulpturen begradigt, habe ich nichts auszusetzen. Und das  konstant milde Wetter in Berlin mit seinen stets wärmenden Sonnenstrahlen macht die Mitmenschen höflich und freundlich: Autos nehmen Rücksicht auf Radler, zumal unser Senat ja auch auf allen Straßen zwei Meter breite Radwege errichtet hat. Parken in zweiter Reihe oder auf dem Bürgersteig – in anderen Städten vielleicht, aber hier? Hier koten die Hunde auch nur auf die für sie vorgesehenen Toiletten und putzen sich anschließend selbstständig mit der Hinterpfote den Allerwertesten ab. Was gäbe es darüber wohl zu lästern?

Nein, Berlin ist die globale Vorzeig-Metropole der Harmonie und Entspanntheit: Autofahrer überlassen anderen mit Freude den Parkplatz und werden auch dann nicht ungeduldig, wenn ein 93-jähriger Senior zum siebzehnten Mal wieder aus der Parklücke herausfährt, um einen neuen Versuch zu starten. Erst gestern habe ich es erlebt, dass sich gleich vier freundliche Fahrer anboten, das Kfz eines Silver-Agers einzuparken, aber sogleich Einsehen hatten, dass er es selbst schaffen wollte. Berlin ist eben die Stadt der gelebten Empathie: Alte und Junge, Arme und Reiche, Kranke und Gesunde – alle haben ein Ohr füreinander und greifen sich unter die Arme. Jeder hat ein bisschen Zeit für den anderen – Eile und Stress, so etwas kennen wir hier nicht. Weiter lesen