Ich gehe in einen Klamotten-Discounter am Alex. Die reine Neugierde hat mich gepackt, weil ich ständig junge Menschen in diesen Shop stürmen sehe. Ich lasse mich von ungefähr drei Dutzend 19-Jährigen auf die Rolltreppe schieben und erhasche so einen Blick über die Auslagen. Ich bin erstaunt: Im Erdgeschoss gibt es Hosen für 10 Euro, Schuhe für 23 Euro und Sweatshirts für sage und schreibe 2,50 Euro. Toll, denke ich, für gut 35 Euro neu eingekleidet!
Oben angekommen nehme ich sogleich wieder die Rolltreppe nach unten: Tatsächlich finde ich ein Paar fetzige Schuhe mit weißer Sohle für 18 Euro. Ich probiere sie an. Sie passen. Beim Bezahlen an der Kasse frage ich, ob ich sie gleich anziehen darf. Ohne eine Miene zu verziehen, entfernt die Kassiererin die Preisschilder und überreicht mir die Schuhe. Weiter nach Klamotten zu schauen, scheint mir ob des Gewusels von ca. 10.000 Kunden und des damit einhergehenden Lärmpegels unmöglich. Allein der Gang zur Rolltreppe abwärts, die natürlich auf der gegenüberliegenden Seite ist, gleicht einem Überlebenskampf. Hoffentlich gibt es hier niemals einen Brand, denke ich. Menschen im Kaufrausch.
Ich bin ebenfalls glücklich über mein Schnäppchen. Wie die das nur machen? Nun ja, außerhalb der Kassen habe ich recht wenig Personal gesehen. Angesichts dieser Schnäppchenpreise dürfte es wohl schwierig sein, davon Mitarbeiter zu bezahlen. Ich frage mich, was eine Hose für 10 Euro, die noch nicht einmal reduziert oder ein Schlussverkaufsangebot, sondern der reguläre Neupreis ist, im Einkauf kostet? Denn von der Differenz muss ja nicht nur das Personal, okay, nicht vorhanden, aber immerhin Steuern, der Maybach des Chefs, die Jahresboni der Aktionäre und auch die Gewerbemiete bezahlt werden. Und die dürfte am Alex ziemlich heftig sein.
Ich zücke mein Handy und sehe schnell mal bei Immo-Scout nach. In der Rosenthaler Straße am Hackeschen Markt kostet der Quadratmeter 200 Euro, in der Münzstraße nur noch schlappe 131 Euro. Ich denke, für den Alex dürfte mindestens die erste Preisangabe zutreffen. Wie viele Hosen muss man wohl verkaufen, um allein die Miete reinzubekommen? Die Antwort sehe ich auf meinem Weg zur U-Bahn: Ein halbes Dutzend glücklich dreinblickende und dauerschnatternde TeenagerInnen schubsen mich mit ihren vollbepackten Papiertüten beiseite. Analoges Powershopping!
Wie groß wird der Anteil sein, der von den 10 Euro Umsatz beim Hersteller und schließlich bei der Näherin ankommt? Wiederum im Netz finde ich einen Artikel in der taz, in dem geschrieben wird, dass der Lohn der Näherinnen in Bangladesch inzwischen um 77 % gestiegen sei. Toll, denke ich. Das wird aber auch Zeit! Weiter unten lese ich dann die konkreten Zahlen: Das Salär ist von 28 auf 50 Euro monatlich gestiegen. Aber infolge der Inflation haben die Näherinnen am Ende noch weniger Geld als vorher.
Ob ich das den glücklichen Schülerinnen, die mir gegenüber in der U-Bahn sitzen und sich gegenseitig ihre neu ergatterten Accessoires zeigen, mitteilen soll? Ich verzichte auf diese Moralkeule, mit der ich selbst jahrelang zur Demut erzogen wurde: „Kinder in der Dritten Welt würden 50 km zu Fuß laufen, um so ein Essen, das du nicht magst, zu bekommen!“
Ich mich frage, wie viele Hosen eine Näherin im Monat selbst kaufen kann? Sicher keine einzige! Die Frage müsste daher eher lauten, wie man überhaupt von 50 oder gar 28 Euro im Monat leben kann? Gut, sicher wird ihre Wohnung im Monat keine 900 Euro wie meine kosten, aber selbst, wenn sie nur 14 Euro dafür berappen muss, wie soll sie von dem Rest eine Familie ernähren, wie eine ordentliche Ausbildung für die Kinder, ein Auto, Kleidung, Telefon oder gar einen Urlaub finanzieren? Vermutlich ist es nur deshalb noch nicht zu massiven Aufständen gekommen, weil die Menschen nach 12 Stunden Arbeit schlichtweg zu kaputt dafür sind. Oder weil ihnen das Militär im Nacken sitzt.
Aber auch ich bin ja kein Gutmensch, der ausschließlich Fairtrade-Sachen kauft. Kann ich mir auch nicht leisten. Meine Schuhe, die ich mir gerade gekauft habe, gefallen mir plötzlich nicht mehr. Das schlechte Gewissen nagt: Auch ich habe nicht darüber nachgedacht, wie viel Lohn die Kassiererin (immerhin gab es ja eine) erhält oder wie viel beim Mode-Designer, Schuhhersteller, Ledergerber, Schweinebauer etc. ankommt. Die Freude über das Schnäppchen überwiegt jegliche Skrupel. Ich bin also – wider besseren Wissens – nicht besser als die drei kichernden Frutten mit den vollen Taschen.
Was würde ich tun, wenn ich so ein unterbezahlter Näher wäre, der seine Familie nicht ernähren kann? Wenn ich im Monat nur 28 Euro verdiente ohne je eine Aussicht auf Besserung zu haben. Wenn mein Sohn niemals eine Chance auf ein besseres Leben hätte, weil ich ihm weder die höhere Schule noch eine Ausbildung bezahlen könnte. Wenn wir und kommende Generationen auf ewig dazu verdammt wären, in den Slums zu leben. Würde ich das auf Dauer aushalten und hinnehmen oder würde ich, so sich mir die Gelegenheit böte, diesem „Drecksloch“ den Rücken kehren und versuchen, aus der Scheiße herauszukommen, um am Wohlstand der Ersten Welt teilzuhaben? Würde ich das Risiko eingehen, mich und meine Familie zu gefährden und eine ungewisse Reise mit ungewissem Ausgang übers Meer oder durch die Wüste antreten, um in ein Land auszuwandern, wo ich weder geliebt noch geduldet sein werde, wo man mich als faulen Wirtschaftsasylanten verprügelt und meine Unterkunft in Brand setzt? Ja, ich würde! Weil es die Pflicht jedes Vaters ist, für seine Familie zu sorgen und ihnen das Beste zu geben, was man ermöglichen kann.
Als ich von der U-Bahn-Station nach Hause gehe, komme ich durch eine Plattenbausiedlung. Am Gehwegrand parkt ein 3er BMW. Ein Mann, militärisch kurze Haare und mit Armen wie meine Oberschenkel, steigt aus und geht seiner schwarz-rosa gefärbten Freundin entgegen. Sie trägt zwei große Taschen von dem Klamotten-Discounter, in dem ich gerade war: Aha, denke ich, ebenfalls powershoppen und muss schmunzeln. Im Vorbeigehen werfe ich einen Blick in die Beutel und stelle fest, dass diese nicht mit Klamotten gefüllt sind. Sondern mit „Bikinis-statt-Burkas“-Plakaten! Nicht zu fassen, denke ich und rutsche plötzlich aus. Als ich auf den Boden schaue, entdecke ich, dass ich in einen frischen Haufen Hundekot getreten bin. „Diese Drecksköter“, fluche ich, als ich feststelle, dass die weiße Sohle und der Stoff meiner neuen Schuhe komplett eingesaut sind. Als ich mich am Bordstein von der stinkenden Notdurft des Vierbeiners zu entledigen versuche, fällt mir ein Spruch meiner Oma wieder ein: „Kleine Sünden straft der liebe Gott sofort!“ Manchmal ist das Karma vielleicht doch noch ein wenig gerecht.