Unsere Jungs

von Dirk Ryssel

Als vor 15 Jahren unser Sohn geboren wurde, versicherte uns eine gute Freundin, dass wir diesen Jungen nun für immer behalten würden.

Sie hat sich geirrt! Er ist bereits nach drei Jahren ausgezogen. Ich hatte es anfangs gar nicht bemerkt. Erst als ich feststellte, dass meine Frau keine Windeln mehr kaufte, wurde mir klar, unser Baby war spurlos verschwunden.

Stattdessen wohnte plötzlich ein Kleinkind bei uns, das in einem Affenzahn durch die Wohnung robbte und anstatt ständig zu weinen oder zu krähen, sich zu verständigen versuchte. Wenn es etwas haben wollte, streckte es den Arm danach aus und gab einen stöhnenden Laut von sich, als ob es eine Zehnkilohantel stemmte. Wenn es einen Fisch in einem Aquarium entdeckte, erregte es die Aufmerksamkeit, in dem es auf ihn zeigend den Mund auf- und zumachte, um uns zu vermitteln, dass es den lebendigen Fisch mit der vor Tagen im Buch gesehenen Zeichnung durchaus kongruent zu setzen wusste.

Irgendwann war auch dieses Kind leider abgehauen.

Ohne dass wir es bemerkt hatten, war schon ein neuer Platzhalter bei uns eingezogen, der viel giggelte und lachte sowie laufen und sprechen konnte, anstatt sich wie der vorherige Junge in einem restringierten Sprachcode zu verständigen. Das neue Kind kroch überall rein und runter, wollte gesucht und gefunden, aber am allerliebsten im Buggy herumgeschoben werden, anstelle selbst zu laufen, wozu es ja im Gegensatz zum vorherigen Jungen durchaus in der Lage war. Überhaupt wusste das neue Kind schon viel darüber, was es wollte und was nicht. Wenn es etwas sah, das ihm gefiel, schaute es uns mit seinem liebsten aller Lieblingsgesichtsausdrücke an und fragte: „Nehmen?“ Was mal einfach zu erfüllen war, wenn es sich um eine Muschel am Strand und mal etwas schwieriger, wenn es sich um ein Ausstellungsstück in der Mineraliensammlung des Naturkunde-Museums handelte. Überhaupt liebte dieses Kind Steine aller Art und hatte einen Blick für das Besondere. Jeden Nachmittag, wenn wir es aus der Kita abholten, waren seine Hosentaschen voller Schätze, und zu jedem hatte es eine lange Geschichte, wo es das wertvolle Stück gefunden hatte. Wobei sich die zum Teil herzzerreißenden Berichte mit einem „Papa, weißt du…“ stets meiner Aufmerksamkeit versicherten und mit Inhalten wie „Die Leonie und der Linus haben heute gar nicht mit mir gespielt“ mein väterliches Gerechtigkeitsempfinden arg  herausforderten.

Doch noch ehe ich mir die beiden Rotzlöffel zur Brust nehmen konnte, um ihnen klarzumachen, dass man meinen Sohn nicht links liegen lässt, war derselbe schon wieder fort.

Das neue Kind, das nun in dessen Kinderzimmer lebte, ging zur Schule, konnte lesen, schreiben sowie vor allem rechnen und hörte am liebsten stundenlange Hörspiele. Oder telefonierte ebenso lange mit seinem Freund in Wiesbaden. Manchmal machte es sogar beides gleichzeitig, also Hörspiele hören und telefonieren. Während der Freund am anderen Ende der Leitung selbst in seinem Zimmer spielte und wir nur ab und zu über den auf dem Boden liegenden Hörer einen Tor-Jubel vernahmen.

Das Einzige, was den letzten drei Kindern gemein war, war ihre Liebe zu Lego. Wobei, ganz so groß kann die Liebe nicht gewesen sein, denn keiner der Jungen, der sich vom Acker machte, nahm irgendetwas von dem Zeug mit. Mir tat es immer ein wenig Leid, nichts dagegen unternehmen zu können, dass sich jedes neue Kind ob der vielen Spielsachen, die seine Vorgänger hinterlassen hatten, eigentlich unwohl in dem Zimmer fühlen musste: Wer zieht schon gerne in eine möblierte Wohnung mit gefüllten Schränken?

Natürlich verließ uns auch dieser Junge alsbald. Mittlerweile hatten wir uns ja schon daran gewöhnt, dass wir immer dann zurückgelassen werden, wenn’s gerade am schönsten ist.

Der Neue ist schon ein junger Mann: Er rührt die Spielsachen seiner Wegbereiter kaum noch an, nur manchmal hat er einen riesigen, weißen Hasen im Schlepptau, den er mit zum Abendessen und ins Bad nimmt. Dafür hängt er umso mehr an seinem Handy, das er schon dabei hatte, als er eines Tages bei uns auftauchte. Er ist so groß wie ich, weiß schon so gut wie alles und vieles leider auch besser als wir. Wir können ihm im Unterschied zu den anderen nicht mehr viel beibringen. Dafür lernen wir umso mehr von ihm. Was unter anderem daran liegt, dass er keine Fünfe gerade sein lässt. Und wie seine Vorgänger hat er seinen ausgeprägten Sinn für Humor.

Manchmal blicke ich sehnsüchtig zurück auf die anderen Jungs, die bei uns gewohnt haben und frage mich, wie es ihnen jetzt wohl geht, was sie wohl gerade so treiben und wovon sie träumen. Geliebt hab‘ ich sie alle auf ihre unterschiedliche Art. Schade, dass sie nur so kurz bei uns waren.

Mal sehen, wie lange der Große bei uns bleibt und was wir mit ihm noch Tolles erleben werden. Aber ich bin auch schon gespannt, wer nach ihm kommt.