Vorletzte Woche bin ich bei ihm gewesen. Es war ein sonniger Frühlingstag, die Sonne schien angenehm warm, die Vögel zwitscherten und so wie vier Wochen zuvor hörte ich das aufgeregte Schreien der Händler vom Wochenmarkt, das nur durch eine vorbeisausende S-Bahn unterbrochen wurde. Aber für einen Platz in der Innenstadt Berlins ist es angenehm ruhig hier.
Jemand hatte Tulpen mitgebracht, gelbe, die in einer Vase neben dem kleinen, frisch eingepflanzten Kiefernbäumchen standen. An der anderen Ecke lag ein Urlaubsfoto, auf dem er in Badehose am Strand posierte. Ich erkannte ihn nicht sofort, weil er einen kleinen Hut trug, aber sein schelmisches Schmunzeln war unverkennbar. Sein Vater hatte Recht: Dies ist ein schöner Friedhof. Ein kleines Idyll am Puls des Lebens. Ich versuchte, ein paar Worte mit ihm zu sprechen, so wie man es in amerikanischen Filmen sieht, doch es gelang mir nicht. Mein Kopf war leer, und ich fand es lächerlich, mit seinem Grab zu reden. Vor allem stellte ich mich vor, wie er darüber lachen würde: „Das ist Kunst!“, hätte er sicher gespottet.
Schon als Kind habe ich Angst vor dem Tod gehabt. Meine Mutter hat mir deshalb zu meinem 12. Geburtstag Astrid Lindgrens „Die Brüder Löwenherz“ geschenkt, aber es hat nicht viel genutzt. Vor einigen Jahren hatte ich beim Gedanken an den Tod sogar richtige Beklemmungen, ja, fast schon Panikattacken. Ein befreundeter Psychologe erklärte mir damals, dass die Angst vor dem Tod im Grunde eine Angst sei, nicht alles im Leben erreicht zu haben. Das leuchtete mir ein: Denn Zeit meines Lebens strebte ich zu Höherem. Ich wollte etwas erschaffen, das mein Leben überdauert. Ich hatte ernsthaft vor, dieser Welt meinen Stempel aufdrücken – ohne mir bewusst zu sein, dass ich damit den Tod nur austricksen wollte. Denn warum sollte es mich interessieren, ob sich irgendjemand nach meinem Ableben an mich erinnert? Ich bekomme es ja nicht mehr bewusst mit. Die Angst vor dem Tod ist irrational: Es ist der vorbestimmte Weg, den wir alle nach unserer Geburt bestreiten. Aber wie werde ich die Angst bzw. das Gefühl, nicht alles im Leben erreicht zu haben, was ich mir als Ziel setzte, wieder los?
In einem alten Lied der Rolling Stones heißt es: „You can’t always get what you want, you get what you need!“. Dieses Prinzip des bewussten Ziels und unbewussten Wunsches oder des „wish“ und „need“ findet in der Dramaturgie des Theaters und Films Anwendung. Die besten Filme sind die, in denen der Held am Ende zwar sein Handlungsziel nicht erreicht, aber das bekommt, was er wirklich braucht. Also, er gewinnt zwar nicht das Rennen oder reüssiert das berufliche Ziel, bekommt aber dafür die Liebe seiner Familie zurück, die er verloren hatte, weil er sich selbst in den letzten Jahren aufgegeben hat. Oder er erhält trotz seines Scheiterns endlich die Anerkennung seines Vaters, der ihm diesen beruflichen Einsatz niemals zugetraut hätte. Doch wie erkenne ich in meinem eigenen Leben, was ich wirklich brauche? Ist es überhaupt möglich, die unbewussten Wünsche zu entdecken, wenn man nicht gerade spirituell oder tiefenpsychologisch bewandert ist?
Auch ich bin wie die Helden in jenen Filmen oftmals ein egoistisches, cholerisches Scheusal: Ich schnauze meinen Sohn und meine Frau an, wenn ich an einem Text wie diesem schreibe und wegen – in meinem Augen – Nichtigkeiten, wie der Ruf zum Abendessen oder einen Bericht über den erfolgreichen Tausch seltener Fußballkarten, gestört werde. Hinterher tut mir das dann immer sehr leid, und im Unterschied zum dramaturgisch durchdachten Filmhelden, der auf die Katastrophe zusteuern muss, versuche ich mich noch für mein eigentlich unentschuldbares Verhalten zu entschuldigen. Und wenn ich dann vor dem Zubettgehen noch einmal bei meinem friedlich schlafenden Sohn ins Zimmer schaue und seinen aufgedeckten Fuß bemerke, überkommt mich ein derart starkes Gefühl, das mir den Hals zuschnürt und mir die Tränen in die Augen treibt, und für einen Moment begreife ich, was ich wirklich im Leben brauche.
Auch Markus wollte im Leben viel erreichen und war stets unzufrieden, noch nicht dort zu sein, wo er sich selbst sah. Manchmal tröstete er sich damit, dass man es eben nicht schaffen könne, innerhalb einer Generation der Kleinbürgerlichkeit zu entfliehen. Ich erinnere mich, wie oft er über seinen Vater schimpfte, weil dieser nicht sein intellektuelles Niveau hatte und mit seiner väterlichen Zuneigung eher sparsam umging. Als ich dann diesen sichtlich gebrochenen alten Mann bei der Beerdigung traf und er mir erzählte, wie er am Krankenbett seines Sohnes saß und diesem bis zum letzten Atemzug die Hand hielt, wurde mir klar, dass Markus doch noch das bekomme hatte, was er wirklich brauchte. Wäre er nicht vor seinem Vater gestorben, hätte er niemals dessen Liebe derart zu spüren bekommen. Und das ist weit mehr als die meisten von uns erhalten (werden).