Raucher

von Dirk Ryssel

Kürzlich bekomme ich ein Paket von meiner Mutter: Obgleich schon 81 Jahre alt liest sie nach wie vor alles nur quer, und dann erhalte ich von ihr sämtliche Artikel, die sie als wichtig erachtet. Mit verhaltener Vorfreude schneide ich daher das Päckchen auf, und sogleich überwältigt mich eine komprimierte Wolke aus kaltem Zigarettenrauch, die sich ausbreitet wie ein Atompilz über dem Mururoa-Atoll.  Meine Mutter ist Kettenraucherin.
Kurz vor dem Erstickungsanfall gelange ich gerade noch an mein Lungenerweiterungsspray, das mich vor dem qualvollen Tod bewahrt. Den Inhalt der Sendung kippe ich in den Müll und muss, während ich den Beutel zuschnüre, die Luft anhalten. Danach stürze ich auf den Balkon, um endlich frische Atemluft in meine Bronchien zu inhalieren. Doch weit gefehlt: Vom Nachbarbalkon unserer rechten Seite wehen die soeben ausgestoßenen Reste der nebenan wohnenden Kettenraucher direkt in meinen Lungenzug. Sofort beginnen mir die Augen zu tränen, und nun ist die Hustenattacke nicht mehr abzuwenden. Die beiden filterfreien Schlote sehen besorgt zu mir rüber, und nach einem letzten genüsslichen Zug an ihrer Kippe gehen sie wieder zurück in ihre Wohnung. Natürlich nicht, ohne vorher ihre Abgase zu mir rüber zu pusten. Ich wähne mich in der Hoffnung nach endlich etwas klarem Sauerstoff, doch dann höre ich das Klicken eines Feuerzeugs unter mir. Zeitgleich brüllt besagter Nachbar auf Russisch in sein Telefon – offenbar versucht er, die Entfernung in sein Heimatland akustisch zu überbrücken.

Resigniert flüchte ich von der Terrasse ins Innere. Dort hat sich zu dem kalten Nikotingeruch meiner Mutter nun auch noch der warme Qualm der Nachbarn hinzugesellt. Selbst meine Kleidung riecht jetzt, als käme ich aus einer Raucherkneipe. Als ich nach fünf Minuten einen neuen Versuch mit dem Fenster starte, zieht der süßliche Cannabis-Gestank unserer Nachbarn von der linken Seite herüber. Ich gebe es auf: Bei dem Feinstaub-Befall, den wir in der Großstadt haben, wird Lüften ohnehin überbewertet. Mein Friseur sieht das übrigens auch so, weshalb ich nach jedem Besuch meine gesamte Garderobe in die Wäsche werfen muss – Auslüften auf dem Balkon hat ja wie gesagt wenig Sinn.

Wenn wir meine Mutter besuchen, was aus den oben beschriebenen gesundheitlichen Gründen immer seltener geschieht, können wir hinterher nicht nur die Klamotten, die wir anhatten, sondern auch sämtliche Kleidungsstücke, die wir im geschlossenen Koffer (im Auto!) ließen, zu Hause in die Wäschetonne treten. Ganz zu schweigen von den Kuscheltieren unseres Sohnes, die allesamt mitgeräuchert werden. Und das, obwohl in der Zeit, in der wir zu Besuch sind, vorbildlich auf der Terrasse gequarzt wird. Dort allerdings auch doppelt so viel, damit man die Enthaltsamkeit im Haus aushält.

Zugegeben: Eigentlich mag ich Raucher. Ich beneide sie oft sogar. Nicht umsonst heißt es, dass die größten Kritiker der Elche früher selbst welche waren. Kaffee und Zigaretten, das Nutten- und Gangsterfrühstück spätromantischer Nouvelle-Vague-Filme gehört zusammen wie Bonnie und Clyde, wie John Wayne und sein Hut. Oder was wäre der US-amerikanische Film Noir, jene gesellschaftskritischen Gangsterdramen, ohne die Zigarette im Mundwinkel des abgebrühten Private Investigator à la Marlowe? Oder in der Hand eines lasziven, Erotik und gleichzeitig Verhängnis ausstrahlenden Vamps wie Rita Hayworth? Die Ästhetik einer ganzen Epoche von Filmen wäre eine andere, wenn es Raucher nicht gegeben hätte. Und Helmut Schmidt ist als Kettenraucher schließlich auch 96 Jahre alt geworden.

Letzten Monat erhalte ich eine Mail meines alten Freundes Konrad, den ich seit drei Jahren nicht mehr gesehen habe. Nach unserem Studium haben wir eine Zeitlang zusammengewohnt, doch als damals frisch gebackener Nichtraucher hielt ich den Nikotin-Gestank nach einem Jahr nicht mehr aus. Er bedankt sich für meinen alljährlichen Geburtstagsgruß und tadelt mich dabei etwas sarkastisch, dass ich ihn mit unserem stets geplanten Treffen nun nicht erst wieder auf das nächste Jahr vertrösten könne: Er ist an Lungenkrebs erkrankt – schwer. 96 wird er nicht werden.