Altkluge Kinder

von Dirk Ryssel

Mein 11 ½ -jähriger Sohn ist ein wirklich kluger Junge, der mich immer wieder mit seinem Wissen und seinen Fähigkeiten beeindruckt: Er kann mir auf der Stelle alle wichtigen Götter und Halbgötter und solche, die es werden wollen, aus der griechischen und deren Pendants aus der römischen Mythologie aufzählen. Mit ihren Fähigkeiten, Relationen zueinander und auf welche Art sie zu Tode kamen oder, da Götter ja nicht sterben können, wie sie von irgendeinem Übergott auf ewig gefoltert wurden. Wenn es aber darum geht, seine Schuhe zuzubinden, ist das für ihn eine Herausforderung wie für einen Fünfjährigen.

Dass er damit keine Ausnahme ist, bemerke ich jedes Mal, wenn einer seiner Nerd-Mitschüler aus seinem Schnelllerngang zu Besuch kommt: Alle haben auffälligerweise Schuhe mit Klettverschlüssen. Hätte ich das vor zehn Jahren geahnt, ich hätte alle meine nicht vorhandenen Reserven in Aktien von Firmen investiert, die Klettverschlüsse herstellen. Wer in den letzten Jahren mal die Kinderabteilung eines Schuhgeschäftes aufgesucht hat, wird festgestellt haben, dass es dort so gut wie keine Schuhe mehr mit Schnürsenkeln gibt: Nur noch Klett- oder sogenannte Gummi-Schnellverschlusssysteme ohne Schnüren. Der klassische Schnürschuh scheint obsolet zu sein.

Neulich hatten wir Besuch von Jonas, dem besten Freund unseres Sohnes:  Jonas ist bereits 14 und ein vielseitig gebildeter und lieber Junge, der nie schlechte Laune hat. Jonas heißt eigentlich Jonas Wilhelm Esra Schumacher. Wilhelm hieß sein Großvater, und ich nehme an, dass der Name Wilhelm beiden Eltern zu deutschtümelnd vorkam, weshalb sie gleich noch ein Esra hinzufügten, um dem Verdacht rechter Gesinnung vorzubeugen. Jonas ist hochintelligent: Er hat fast nur Einsen auf dem Zeugnis, selbst in Latein, spielt mehrere Instrumente und ist auch noch sportlich. Aber wenn man ihm ein Handtuch zum Duschen bereitlegt und es ihm auch zeigt, darf man sich nicht wundern, wenn er sich stattdessen mit dem Badewannenvorleger abtrocknet und sich danach über die vielen Haare auf seinem Kinderkörper wundert.

Auch das Eincremen mit Sonnenmilch stellt für beide Überflieger eine größere Herausforderung als das Erklären der Gravitation im Weltall dar: Da wird gleich der gesamte Parkettboden des Kinderzimmers vor der UV-Strahlung mitgeschützt, aber das eigene Gesicht vergessen. Am liebsten hätten sie es wohl, wenn ich sie einriebe – unabhängig davon, ob sie 11 oder 14 sind: Dafür empfinden sich beide noch nicht zu alt. Ich bin gespannt, ob es ihnen mit 16 endlich mal peinlich wird. Ach ja, und nach dem Frühstück sieht die Küche jedes Mal aus, als ob man eine Handgranate in einem Brotlaib zum Detonieren gebracht hätte.

Es ist schon seltsam: Beide können mir erklären, wie ich die Anzahl der geöffneten Fenster auf meinem Smartphone reduzieren kann, um Akku zu sparen, aber mit der Gangschaltung eines Fahrrads zurechtzukommen, führt zu Stresssituationen. In Braunschweig hat kürzlich eine 14-jährige Schülerin das Abitur mit 1,0 gemacht, doch ich frage mich ernsthaft, ob sie, mein Sohn oder einer seiner hochbegabten Freunde jemals einen Fahrrad-Reifen werden flicken können, geschweige denn, eine Bremse reparieren. Verbal auf jeden Fall.

Manchmal frage ich mich, ob sie tatsächlich schon zerstreute Professoren in spe oder einfach nur verwöhnte, faule Gören sind. Im Zimmer unseres Sohnes (und seiner sämtlichen Freunde) lässt sich das Phänomen der Entropie für jeden Laien hervorragend exemplifizieren: Es dauert keine Stunde, in der sich ein Zustand künstlich hergestellter Ordnung (durch seine Eltern) wieder in ein natürliches Chaos verändert. Und nur unter Androhung schlimmster Repressalien – wie z.B. ein temporäres Tablet-Verbot – wird unter lautstarker Betonung des Missfallens der Fußboden halbwegs begehbar gemacht. Wobei Aufräumen auch nur heißt, das wahllos verstreute Zeug in die überquellenden Schubladen zu stopfen und sich währenddessen darüber zu beklagen, dass diese schließlich schon voll seien. Und ich frage mich dann immer, wie es kommt, dass dieselben Kinder, die in der Schule bereits Roboter programmieren, nicht in der Lage sind, den Zusammenhang zwischen selbst verursachter Unordnung und deren Beseitigung zu begreifen. Oder die bereits Flächeninhalte berechnen können, aber fast verzweifeln, wenn sie die Fläche ihres Brotes mit einer minimal gehärteten Butter oder Margarine bestreichen müssen. Die zwar schon ansagen, mit welchen Extras sie ihre Pizza belegt haben möchten (Chorizo, frischen Parmesan-Stiften, Oliven und Auberginen), sie dann aber von Papa durchschneiden lassen. Ist es alles nur Bequemlichkeit durch viel zu langes Gepampere ihrer Helikopter-Eltern oder motorische Unterentwicklung. Apropos: Wenn meine Frau unseren Sohn kämmt, wirft er ihr grobmotorische Brutalität vor, doch wenn er es selbst macht, sieht er hinterher immer noch wie ein Highland-Cattle aus.

Bis heute müssen wir unserem Sohn noch die Kleidung des Tages aus seiner Kommode zurechtlegen, weil er sonst Kniestrümpfe zu kurzen Hosen und Sandalen anzieht, und wenn man diese kreative Zusammenstellung kommentiert, wird einem gleich Mobbing vorgeworfen. Bei seinem Kumpel muss man hingegen schon froh sein, wenn er nach einer Woche nicht immer noch dieselbe Unterhose anzieht, weil bei den anderen angeblich der Gummizug im Schritt reibt.

Ja, ja, die Kinder von heute…

Meine Mutter würde jetzt sicher gleich wieder anbringen, wie diese Generation wohl den Krieg überlebt hätte…

Mein Gott, ich höre mich schon genauso an, wie meine Eltern und Großeltern. Das ist wohl der endgültige Beweis, dass ich alt bin.