Wochenend-Ausflüge

von Dirk Ryssel

Sobald am Wochenende nur der geringste Sonnenstrahl am Himmel zu sehen ist, wird meine Frau ganz unruhig und ist von dem Drang besessen, irgendetwas unternehmen zu müssen, um das schöne Wetter zu nutzen. Als ob man dafür dann eine Belohnung oder Gratisboni bekäme. Schönes Wochenend-Wetter bedeutet, dass wir bereits am Vorabend nicht bis in die Puppen Fernsehen können, weil am nächsten Tag ein straffes Vormittagsprogramm mit Frühstück, Aufräumen, Mittagessen- und Picknick-Vorbereitungen angesagt ist.

So auch an einem Wochenende im Oktober, als durch ein Orkantief über Irland noch einmal sommerliches Klima nach Mitteleuropa gepustet wurde: 24 Grad Celsius und strahlender Sonnenschein. Des einen Leid ist des anderen Freud, denke ich. Während die armen Iren bei Windgeschwindigkeiten von 190 km/h nur unter Lebensgefahr das Haus verlassen können, ist bei uns Toskana-Feeling angesagt. Ideales Wetter, um im brandenburgischen Linum die Zugvögel, die dort auf dem Weg nach Afrika Zwischenlandung machen, zu beobachten.

Also brechen wir pünktlich nach dem Mittagessen auf. Mein Sohn will wissen, ob wir an seinen Puller-Becher gedacht hätten, falls er unterwegs mal müsse und keine Toilette in Reichweite sein sollte. „Keine Sorge“, beruhige ich ihn, „wir werden dort irgendwo einkehren und einen Kaffee trinken. Dann kannst du dort auf die Toilette gehen.“ Doch bereits auf der Autobahn werde ich ob des dichten Verkehrs ein wenig verunsichert: „Haben denn in Brandenburg bereits die Herbstferien begonnen?“, frage ich meine Frau, aber sie verneint.

In Linum selbst stelle ich fest, dass alle drei extra für die Besucher angelegten Sonderparkflächen bis auf den letzten Platz voll sind. Die 750-Einwohner-Gemeinde wird überrannt von der dreifachen Zahl der Touristen und Hobby-Vogelkundler. Wobei das Hobby so weit geht, dass jeder Zweite mit Kameraobjektiven ausgerüstet ist, die manch einen eher an Opas heroische Erzählungen vom Russlandfeldzug denn an Freizeitfotografie erinnern. Das, was in den USA die privaten Waffenarsenale sind, scheinen hier die Kameraausrüstungen zu sein.

Hier herrscht mehr Betrieb als auf einem Berliner Straßenfest. Eine plötzlich aufkommende Böe – vermutlich die Rache aus Irland – reißt mir meine Sonnenbrille vom Kopf. Ich bücke mich danach und werde unerwartet von hinten unsittlich gerammt. Die Outdoor-Stiefel des energischen Rentner-Ornithologen zertrampeln das Designergestell, das mich vor den UV-Strahlen schützen sollte. Er hat es nicht einmal bemerkt, so eilig rast er mit seiner Spiegelreflex-Bazooka weiter.

Als wir endlich an eine der Aussichtsplattformen kommen, müssen wir uns in die Schlange der Wartenden einreihen. Die Sicht-Öffnung des Hochsitzes sieht aus wie die Pressetribüne beim Empfang des US-amerikanischen Präsidenten: Jeder Zentimeter ist hier schwer erkämpft, um eine freie Sicht auf die Start- und Landebahn der Flugobjekte zu erheischen. Oben angekommen versuchen wir vorsichtig an den verkappten Profi-Fotografen fortgeschrittenen Alters vorbeizulugen. Nun wird auch mir klar, warum hier alle solche Nasa-Teleskope benötigen: Kurz vor der Erdkrümmung am Horizont sieht man stecknadelkopfgroß ein paar Wildenten im Wasser baden.

Zum Glück habe ich das alte Armee-Fernglas meines Vaters dabei, wofür ich einen mitleidigen Blick meines Vordermanns ernte. Immerhin kann ich meinem Sohn auf diese Weise die in Berlin wirklich sehr seltenen Verwandten Donald Ducks zeigen. Von den avisierten Kranichen hingegen keine Spur; die kommen wohl erst, wenn die Touristen mit ihrer schweren Artillerie wieder abgereist sind.

Selbst meiner Frau ist inzwischen die Ausflugseuphorie vergangen: „Ich brauche einen Kaffee“, jammert sie. „Ein Weizenbier wäre noch besser!“. Wir kommen zu einem idyllisch gelegenen See, an den ein kleiner Biergarten rankt. Angesichts der nur noch vorhandenen Stehplätze und der Biersorte, deren Geschmack ungefähr mit Seifenwasser zu vergleichen ist, entschließen wir uns – zum großen Unmut unseres Sohns – weiterzuziehen. Doch alle Cafés, Restaurants, Imbissbuden, Erfrischungsstände und Regionalprodukt-Läden sind bis auf den letzten Platz frequentiert. Uns bleibt nur noch eine verwitterte, auffälliger Weise leer stehende Bank auf dem Spielplatz, wo wir unsere mitgebrachten Mürbeteig-Kekse mit dem zu Hause abgefülltem Leitungswasser herunterwürgen. So schön kann Picknick sein.

Als ich plötzlich den Gestank von Hundekot wahrnehme, weiß ich, warum diese Bank noch frei ist und denke, dass ich dafür nicht extra 50 km weit von Berlin wegfahren musste. Mittlerweile muss unser Sohn „ganz dringend“ pinkeln. Ich auch, doch es gibt keine Chance, sich angesichts der vielen Teleobjektive unauffällig ins Gebüsch zurückzuziehen. Dank des Pullerbechers, an den meine Frau gedacht hat, kann sich unser Sohn im Auto erleichtern. Für meine volle Blase wären andere Gefäße vonnöten. „Na gut“, töne ich selbstbewusst, „wenn wir in keinen Stau kommen, halte ich es bis zu Hause durch!“

Solche Ankündigungen sollte man niemals machen, denn ca. 8 Kilometer vor Berlin geraten wir in einen Stop-and-Go-Verkehr, der mehr Stop als Go ist, sodass mein Vorhaben zu einem Stresstest sondergleichen wird – den ich schnell verliere! Zwar habe ich mir noch nicht in die Hose gemacht, aber irgendwann brülle ich nur noch herum: verfluche den Verkehr, die anderen Autos, die Wochenend-Fahrer und am Ende auch noch meine Frau mit ihren Ausflugsideen.

Als wir endlich eine Ausfahrt erreichen, hat sich mein Blasendruck zu einem schmerzhaften Krampf ausgeweitet. Jede Ampel kann vor der zu erwarteten Katastrophe die letzte sein. Endlich sehen wir einen leerstehenden Parkplatz eines geschlossenen Supermarktes, auf den ich mit Vollgas heraufrase. Ich renne um das Gebäude herum, öffne die Hose und kann endlich meinem absolut primären Bedürfnis nachgeben: Während ich so dastehe und sich ein Gefühl der Erleichterung und Entspannung in mir breit macht, denke ich an die armen Iren, die nun eingesperrt im Pub ihr Kilkenny mit Freunden und Kumpels trinken und Darts spielen müssen. Des einen Leid ist des anderen Freud…