Ich nahm mir vor, es hinzubekommen, nichts persönlich zu nehmen, mich nicht provozieren zu lassen und es nicht zu einem Streit kommen zu lassen. Es könnte vielleicht ihr letztes Weihnachten sein: Seit einem Jahr hat sie die Diagnose Darmkrebs, und nur sie selbst weiß, wie schlimm es ist. Wir, ihre Söhne und der Rest der Familie, wissen nicht, wie wir die Ernsthaftigkeit der Situation einschätzen sollen, zu oft wurden wir in den letzten 40 Jahren mit ihren vermeintlichen Krankheiten manipuliert, gar emotional missbraucht: In unserer ängstlichen Vorstellung ist sie schon hunderte Male gestorben.
Ich wollte daher entspannt bleiben, mich und die Situation beobachten, um aus dem Erlebten zu schöpfen und zu wachsen. Doch es war eine Illusion, denn wer vermag schon an Weihnachten ein stiller Zuschauer zu sein – jenem Fest, bei dem Freude und Enttäuschung so nahe beieinander liegen, weil jeder seine Erinnerungen mit den Erwartungen verknüpft und umgekehrt.
Die Idee kam ursprünglich von meiner Frau: Meine Mutter hatte es mal wieder geschafft, sich mit allen Familienmitgliedern zu zerstreiten, weshalb sie nicht mit ihrem Mann und dessen Kindern und Enkeln Weihnachten feiern wollte. Eigentlich hat sie das noch nie gewollt. Sich auf etwas Neues einzulassen, liegt ihr nicht. Und natürlich befürchtete sie hämische Fragen nach ihrer eigenen Familie, wofür sie sich schämen müsste. Selbst wenn diese niemals gestellt würden.
Keiner meiner Brüder war scharf darauf, mit unserer Mutter Heiligabend zu verbringen:
Zum einen sind wir sehr harmoniebedürftig und haben die Weihnachtsfeste in zwiespältiger Erinnerung – einerseits perfekt organisiert, andererseits sehr unentspannt: Ehekrach, Familienstreit und Geschrei waren eher die Regel als die Ausnahme; mein Vater hat sich mehrmals an Heiligabend aus dem Staub gemacht und blieb Tage, einmal sogar mehrere Wochen verschwunden, ohne dass wir Kinder wussten, wo er war.
Zum anderen vermittelt uns unsere Mutter das Gefühl, in ihren Augen minderwertig zu sein, ihren Ansprüchen nicht zu genügen oder von uns enttäuscht zu sein. Das zeigt insb. in ihrem Desinteresse an allem, was wir tun oder wofür wir schwärmen, und was ihrer Ansicht nach nicht repräsentativ ist. Womit sie sich nicht nach außen brüsten kann. Es ist ihr unmöglich, jegliche Form der Individualisierung, die nicht mit ihrer Persönlichkeit kompatibel ist, anzuerkennen oder gar zu schätzen. Sie kann ihre Söhne nicht als selbstständige Individuen, die sich von ihr emanzipiert haben, gutheißen. Und selbst wenn wir ihr täglich dankten, dass sie uns zu dem gemacht hat, was wir sind, wäre sie nicht zufrieden: Eben, weil wir nicht das geworden sind, was sie für uns vorgesehen hat. Und weil keiner von uns nach 25 Jahren immer noch ihr Ehe- und Psycho-Berater, Retter und Ritter, Arzt und Apotheker, Zuhörer und Trostspender sein will. Weil wir es wagen, unser eigenes Leben zu führen. So blieb es also an mir hängen. Dem jüngsten Familienmitglied. Demjenigen, der immer die schwächsten Nerven und sich bereits sein halbes Leben um die Mutter gekümmert hatte.
„Das ist nicht mehr meine Welt!“, waren ihre ersten Worte der Begrüßung, als ich sie vom Bahnsteig abholte. Während der Heimfahrt durch Berlin-Mitte, Prenzlauer Berg und Pankow gaben die jeweilige Umgebung Anlass, um über den Verfall von Sitten und Moral, mangelnden Respekt, das politische Desinteresse des dummen Volkes, Ernährungsspinner, Sexismus-Hexenjäger, ostdeutsche Rechtspopulisten, intolerante Gesundheitsapostel, die geldgierigen Kinder ihres Mannes, meine undankbaren Brüder und deren Ausländer-Freundinnen insb. deren Schlitzaugen-Töchter – kurzum: über alles und jeden, der nicht so ist wie sie, zu Felde zu ziehen. Es spricht vieles für schwedische Autos, dass bei so viel negativer Energie der Motor unseres Kombis keinem Kurzschluss erlag.
Ich sagte mir: Okay, sie ist eben alt und verbittert. Vielleicht macht auch der Krebs einen Menschen erst richtig böse. Vor allem ihre apokalyptische Überzeugung, dass die Welt aus den Fugen gerate, ist möglicherweise dem Umstand anzurechnen, dass sie derselben in absehbarer Zeit nicht mehr angehören wird. Sich den Tod also schön redet.
Aber ist es wirklich dem Alter und dem Krebs geschuldet, dass sie einem nackten Zehnjährigen, ihrem Enkel, der sich im Bad wäscht, empfiehlt, er solle bald mal wieder in die Sonne gehen, um braun zu werden? Dass sie die Freunde ihrer Söhne als Schmalspur-Wissenschaftler diffamiert, sich selbst – als gelernte Erzieherin – aber gerne als Psychologin oder Sozial-Pädagogin präsentiert? Dass sie die väterlichen Schwächen und Fehler ihrer Söhne nur benennt, um in selbstgerechter Attitüde als Mutter besser dazustehen?
Ich habe mich wirklich bemüht, alle diese Kommentare zu ignorieren, Provokationen aus dem Weg zu gehen und Gespräche an der Oberfläche zu belassen. Schließlich sollte es ein harmonisches Weihnachtsfest werden. Aber tatsächlich wäre es wohl besser gewesen, ich hätte mal auf den Tisch gehauen. Denn solch eine passive Aggressivität ist auf Dauer nicht abzuwehren – sie dringt, ohne dass es man es merkt, durch einen durch und vergiftet jede vorher vorhandene fröhliche Stimmung. Bereits an Heiligabend gefiel mir mein Lieblingsjackett, das ich extra zur Feier des Tages angezogen hatte, nicht mehr. Zudem fragte ich mich, warum ich mich als Einziger so herausputzte, während mein Sohn in Jogginghose herumlief und meine Frau immer noch ihre Jeans trug? Dabei hatten sich beide längst umgezogen, ohne dass es mir aufgefallen war.
Am 1. Weihnachtstag gerieten meine Frau und ich in einen derart heftigen, obgleich lächerlichen Streit über das seit Wochen vereinbarte Mittagessen. Sarkastisch gratulierte ich ihr, dass sie meiner Mutter nun zum Erfolg verholfen habe: weil auch wir kein harmonisches Weihnachtsfest hinbekämen. Dann schnappte ich mir meine Jacke und verließ das Haus. Da der Akku meines Handys versagte, konnte mich meine Frau nicht erreichen, um mir zu sagen, wie leid es ihr tut. Und auch mir wurde klar, dass es mir egal sein sollte, was meine Mutter über mich und meine Fähigkeiten als Ehemann und Vater, ja, über unsere Familie denkt. Unbewusst hatte ich wieder die Rolle jenes Sohnes eingenommen, der permanent der Mutter gefallen will. Der ihr immer noch beweisen will, dass er ein guter Junge ist, damit sie ihn endlich lieb hat.
Als ich nach einer Stunde in das Irrenhaus zurückkehrte, war meine Frau sichtlich erleichtert, dass ich nicht der Tradition meines Vaters gefolgt war. Genießen konnten wir das Weihnachtsessen dennoch nicht: Das Roastbeef schmeckte nach Hund, die Kartoffeln waren zu wässrig, die Möhren zu bissfest. Nur meine Mutter war auffallend still und fand das Essen wunderbar. Im meinem Bauch drehten sich sämtliche Eingeweide im und gegen den Uhrzeigersinn, doch ich blieb entspannt, lächelte vor mich hin. Als wir aufbrachen, beschwerte sich meine Mutter, während sie ihr Handy nach neuen Nachrichten checkte, dass sich keiner ihrer beiden anderen Söhne bei ihr gemeldet habe.
Beim Abschied am Bahnhof wollte ich ihr eigentlich sagen, dass ich bedauere, ihr nicht zu genügen, weshalb sie mich offenbar nicht lieben könne. Doch als sie dort auf dem Bahnsteig stand und sich plötzlich Schmerz verzerrt gegen eine Säule lehnte, brachte ich die seit Stunden vorformulierten Worte nicht über die Lippen, sondern wünschte ihr nur gute Besserung und eine entspannte Reise. Sie tat mir fast schon wieder ein wenig leid, als sie in den Zug stieg, um wieder nach Hause zu fahren – in das Dorf, in dem sie sich nicht heimisch fühlt, in das Haus, in dem sie nur Gast ist, zu ihrem Mann, den sie nicht liebt.
In Hannover, wo sie umsteigen musste, schrieb sie mir eine SMS, in der sie sich nochmals für alles bedankte. Ich mag meine Mutter – am liebsten, wenn sie mindestens 300 km entfernt ist.