Wohlstandskinder

von Dirk Ryssel

Wenn ich nachts in das Zimmer meines Sohnes schleiche, um seine Musikanlage auszuschalten und dabei mindestens zweimal auf eine scharfkantige Lego- oder eine spitze Superzings-Figur trete, möchte ich zwar lieber schreien als darüber zu philosophieren, ob unsere heutigen Wohlstandskinder nicht von allem ein bisschen zu viel haben. Aber eigentlich kann ich ihm gar keinen Vorwurf machen, denn wie er mich zu Recht darauf hinweist, sind alle seine Schränke bereits voll. Aber ihn zum Ausmisten zu bitten, ist ungefähr so erfolgsversprechend wie bei einem Messie: Am Ende kommen von 10 Kubikmetern Spielsachen vielleicht zwei kleine Ü-Ei-Figuren zum Vorschein, die weggeworfen oder großzügig verschenkt werden dürfen. Um wenig später zu jammern, dass ich ihn gezwungen hätte, seine beiden Lieblingsspielzeuge wegzugeben…

Ich habe es mit allen Argumenten und pädagogischen Maßnahmen versucht, meinen Sohn von seiner Überfluss-Konsumhaltung abzubringen. Vergebens! Manchmal schwinge ich sogar die Greta-Thunberg-Keule, aber auch das bleibt ohne Erfolg, obwohl wir gemeinsam für schärfere Klimagesetze und Umweltschutz demonstriert haben. Und wenn ich ihm von meinen vergleichsweise wenigen Spielzeugen in meiner Kindheit erzähle, unterbricht er mich mit den Worten: „Oh nein, nicht schon wieder eine Geschichte aus dem Mittelalter!“ Vergleichbares habe ich früher zu meinen Eltern gesagt, wenn sie mir von ihrer Kindheit erzählten: „14-18-Storys“ nannte ich ihre Erlebnisse – obgleich sie vom 2. Weltkrieg handelten.

Man kann Kindern freilich nicht vorwerfen, dass sie es heute besser und viel mehr Spielsachen haben. Eltern sollten immer diesen Anspruch haben – auch wenn das vielleicht in Anmaßung ausarten kann: Wer kann schon wissen, was für den anderen das Beste ist oder sein wird? Dennoch frage ich mich in letzter Zeit häufig, ob nicht ein gewisser Mangel an Wohlstand sowohl der Umwelt als auch der Kreativität gut täte? Gerade in den Wochen und Monaten des Lockdowns haben wir doch trotz allseitiger finanzieller Belastungen feststellen können, welche Kreativität die Einschränkungen der Mobilität und des Konsums hervorbringen: Von Wohnzimmer-Konzerten bis zu Internet-Dancefloors – ich will die Reglements nicht schön reden, aber selten hat eine Überflussgesellschaft große Kunst und Kultur hervorgebracht.

Unsere Kinder werden im Wohlstandsüberfluss sozialisiert und kennen keinen Mangel. Man kann sie auch nicht wie Amish-People aufwachsen lassen und ihnen jeglichen Wohlstand und Konsum verweigern, in der Hoffnung, sie würden dadurch kreativer und zur Nachhaltigkeit erzogen werden. Wir hatten schon Kinder zu Besuch, die zu Hause nicht fernsehen und auch keine Süßigkeiten essen dürfen. Es erübrigt sich wohl zu erwähnen, was jene Zöglinge, als sie bei uns zu Besuch waren, konsumieren wollten. Und Kinder darauf hinzuweisen, dass wir unseren und ihren Wohlstand sehr hart erwirtschaften müssen, ist ebenfalls für die Katz: Sie leben derart in der Amazon-, eBay- und Paypal-Blase, dass reales Geld genauso virtuell ist wie die goldenen Coins ihrer Computer-Games. Alles ist da und muss jederzeit verfügbar sein: Wehe dem, es gibt irgendwo kein WLAN.

In der Grundschule wurde noch gewetteifert, wie viele Adventskalender man hat. Später wurde differenziert, ob man einen gekauften oder einen selbst gebastelten hat. Noch werden die Smartphones nicht verglichen, aber keins zu haben, geht seit der fünften Klasse gar nicht mehr. Einer meiner Bekannten musste seinem Sohn ein iPhone 12 schenken, damit dieser sich nicht unter seinen Kameraden auf der Privatschule zu schämen brauchte. Er selbst, etablierter Arzt, übernahm dann das iPhone 4 seines Filius‘. Der Wettbewerb beginnt längst, bevor die Steppkes lesen und schreiben können, ja eigentlich schon, ehe sie klare Sätze von sich geben. Und wir sind selbst schuld, denn bereits ihre Mütter vergleichen mit Argusaugen die Kinderwagen und Buggys: Von welcher Marke das Modell ist und welche Extras es hat. Der Coffee-to-go-Halter gehört zur Mindestausstattung. Und weiter geht es mit der Babywickeltasche mit Vollausrüstung in der Preislage von 29,90 bis 2799,– Euro (ohne Übertreibung!) bis hin zur passenden Familienkutsche ab 50.000 Euro aufwärts.

Nicht, dass wir je diesen ganzen Luxus hatten oder haben werden, aber unser Sohn wächst in einem sozialen Umfeld auf, in dem dieser Standard unisono ist. Wenn ich ihm daher erkläre, dass ich für die zwei Taucherbrillen, die er und sein Freund beim Spielen im Meer verplempert haben, fast einen halben Tag lang arbeiten muss, erklärt er mir, das wäre ja nicht allzu viel. Manchmal bin ich einfach sprachlos, mit welcher Selbstverständlichkeit unsere Kinder davon ausgehen, dass jeglicher Komfort und Wohlstand das Normalste der Welt ist: „Wieso hat euer Auto hinten keine elektrischen Fensterheber?“ „Was? Ihr habt keinen Neuwagen?“ „Geht ihr etwa zu Lidl? Lidl ist doch böse! Wir kaufen nur im Bio-Laden ein!“

In irgendeinem Erziehungsratgeber habe ich mal gelesen, Kinder fungieren als Spiegelbild unseres eigenen Verhaltens. Da nicht nur in Deutschland der Mittelstand die meisten Ressourcen verbraucht und den höchsten CO2-Ausstoß hat, weil er am stärksten konsumiert, muss ich mir wohl selbst an die Nase fassen. Da fällt mir ein: Wo bleibt eigentlich meine Amazon-Bestellung von gestern? Da hat man schon Prime und muss immer noch einen Tag auf die Lieferung warten… Frechheit!

Meine Mutter hatte in ihrer gesamten Kindheit nur eine Puppe…, aber das ist wohl eine Geschichte aus der Steinzeit, würde mein Sohn jetzt sagen.