Kiez

von Dirk Ryssel

Kürzlich fragt mich mein Sohn beim Frühstück, was das Wort „Kiez“ bedeutet. Ich bin mit dieser Frage ein bisschen überrumpelt: Natürlich weiß ich, was ein Kiez ist, jeder weiß das in Berlin, aber das ad hoc zu erklären, ist gar nicht so einfach. „Ein Kiez“, stammele ich, „ist das Viertel, in dem man wohnt.“ „Also, Pankow?“, hakt er nach. „Nein, viel kleiner! Pankow ist der ganze Bezirk!“ „Die Binzstraße?“. „Nein, eine einzige Straße ist als Kiez zu klein.“ „Ja, was ist denn nun ein Kiez?“, fragt er ungeduldig. „Das kann man nicht so einfach erklären“, rudere ich herum. „Du weißt aber auch gar nichts!“, blafft er mich an und stampft wütend in sein Zimmer.

Frustriert darüber, meinem Sohn keine befriedigende Antwort gegeben zu haben, googele ich sofort nach, was das Netz dazu sagt und finde eine interessante Erklärung bei Wikipedia: Darin heißt es, dass vor allem in Berlin als Kiez ein überschaubarer „Wohnbereich (…), oft mit weitgehend vom Krieg verschonten Gründerzeit-Gebäuden in ‚inselartiger‘ Lage und einem identitätsstiftenden Zugehörigkeitsgefühl in der Bevölkerung“ bezeichnet wird. Als Beispiele werden u.a. der Wrangel- und der beliebte Bergmann-Kiez in Kreuzberg genannt. Ob es wohl einen Binz- oder einen Neumann-Kiez gibt? Nun, die Binzstraße besteht zwar tatsächlich aus überwiegend Gründerzeit-Häusern, ist aber eine reine Wohnstraße und als Kiez in der Tat zu klein. Die Neumannstraße teilt sich hingegen in einen Altbau- und einen Neubauteil auf. Vor dem zweiten Weltkrieg standen dort fast ausschließlich Laubengärten. Sie verdient es wohl auch nicht als Kiez aufgewertet zu werden.

Ich beschließe erst einmal eine Runde zu joggen. Auf dem Weg zum Kissingensportplatz komme ich an einem geschlossenen Gebäudekomplex aus alten, vor ein paar Jahren aufwändig renovierten Genossenschaftswohnungen vorbei. Die Architektur dieser Häuser ist zwar deutlich funktionaler als bei den älteren Gründerzeithäusern, aber immer noch hübsch anzusehen mit ihren geschwungen, manchmal als Wintergärten verglasten Balkons, spärlichen Stuckverzierungen und gepflegten Vorgärten, deren Einfassungen im Zuge der Sanierung originalgetreu erneuert wurden. An einem der Fenster treffe ich stets eine ältere Dame, die ihre morgendliche Zigarette raucht. Wenn ich „Dame“ schreibe, meine ich das auch: Sie wird Mitte siebzig sein, ist aber sehr gepflegt, mit dunkelbraun gefärbten Haaren und frisch toupierter Frisur. Da sich unsere Blicke auf dem Hin- oder Rückweg oft kreuzen, haben wir angefangen, uns höflich zu grüßen. Ich muss zugeben, dass ich mich inzwischen freue, sie zu treffen und mir etwas fehlt, wenn das Fenster geschlossen und sie nicht da ist.

Kurz vor dem Eingangstor kommt mir der athletische Marathonläufer entgegengelaufen, mit dem ich mich oft unterhalte. Ich denke: Oh nee, jetzt bloß nicht in ein Gespräch verwickeln lassen, sonst fange ich ja nie zu joggen an, doch er hebt nur lässig die Pfote und rennt – mit einem prüfendem Blick auf seine Hightech-Uhr – konzentriert weiter. Nun bin ich fast ein wenig enttäuscht. Auf der Polytan-Bahn begrüßt lächelnd mich „die Graue“, eine sportliche Frau um die 40, die ich wegen ihrer Haarfarbe so nenne. Ich kenne sie vom Sehen bestimmt mehr als drei Jahre und habe bislang ungefähr genauso viele Worte mit ihr gewechselt. Ehrlich gesagt weiß ich nicht einmal, ob sie überhaupt Deutsch spricht, denn außer einem „Hallo“ oder einem „Danke“ habe ich sie noch nichts sagen hören. Ist letztlich auch egal: Ich freue mich dennoch, eine Leidensgenossin zu treffen. Ebenso wie die ältere Frau, die ich intern nach meiner verstorbenen Tante Hilde benannt habe: Sie wird schon etwas älter als siebzig sein, dreht aber jeden Morgen ihre  Runden im Stadion. Nicht laufend, aber schnell gehend, auch „walking“ genannt. Und das vorwärts wie rückwärts. Zudem macht sie eine ganze Reihe gymnastischer Streck- und Greifübungen. Bei Wind und Wetter! Respekt, kann ich nur sagen. Ich laufe los.

Als ich schon wieder auf dem Heimweg bin, fegt eine Frau vor ihrem Haus den Bürgersteig. Sie muss das nicht machen, aber so, wie sie auch die Wurzeln der Ahornbäume mit Mini-Bassins, in denen Quietscher-Entchen schwimmen, hübschen Blumen und Spielzeugtieren verziert, damit diese nicht von Hunden als Toilette missbraucht werden, reinigt sie eben auch ihre Straße mit einem Besen, weil ihr die BSR zu selten vorbeikommt. Sie will sich in ihrer Umgebung wohlfühlen. Ich kenne sie nicht näher, aber weil man sich so oft begegnet, begrüßt man sich freundlich und wechselt ab und an zwei Worte. Bei Edeka fragt mich die etwas burschikose Kassiererin, ob ich fleißig gewesen sei? Mir ist es ein wenig peinlich, dass ich in meinem verschwitzten Sport-Outfit erkannt werde und gebe deshalb beschämt zu, nur drei Kilometer gelaufen zu sein.

Zu guter Letzt begegne ich vor der Haustür dem „Engländer“, der natürlich nicht von der britischen Insel kommt, sondern eigentlich, wie ich seinem Dialekt entnehme, aus Sachsen-Anhalt, den meine Frau und ich nur deshalb so tituliert haben, weil während der WM 2006 auf seinem Balkon der Union Jack prangte. Vorgestellt haben wir uns noch nicht, weshalb wir ihn auch wahlweise Iggy nennen, nach Iggy Pop, weil er bis auf die gefärbten Haare so aussieht und ebenfalls Musiker ist. „Wie geht’s, wie steht’s?“, fragt er mich. „Beides gut!“, antworte ich. „Bald wieder auf Tournee?“, will ich mit einem Blick auf seinen voll beladenen Mercedes-Kombi wissen. „Ich hab‘ am Wochenende einen Auftritt in Hamburg. Hoffentlich hält die Karre diesmal durch“, gibt er zurück. „Ich hab‘ dich die Woche proben gehört: Klang toll!“, lobe ich, und er bedankt sich höflich.

Ich könnte jetzt noch Carolin aufzählen, die Mutti eines ehemaligen Kita-Freundes meines Sohnes, mit der sich meine Frau (un)regelmäßig zum Joggen verabredet oder „die Frau des Mannes mit dem dicken Po“, die beide ein Haus weiter wohnen und ebenfalls einen Jungen in ungefähr dem Alter unseres Sohnes haben: Man kennt sich vom Sehen, grüßt sich und wechselt hie und da ein paar Worte. Oder den „Professor“, einen Mann um die achtzig mit wildem weißem Haar, das zu allen Seiten absteht, als ob er sich darin herumrauft und der stets tief sinnierend die Binzstraße entlangtippelt. Oder die Sibirjakí, jene Nachbarn von schräg gegenüber, die das gesamte Jahr von früh morgens bis spät abends auf dem Balkon verbringen, alles im Blick haben und jeden aus der Gegend identifizieren können. Sie wissen, wo jeder wohnt, wann er aus dem Haus geht und wann er nach Hause kommt. Und wehe dem, der sich – auch nur kurzfristig – in ihre Einfahrt stellt. Dem drohen sie wütend mit der Polizei. Und nicht zuletzt Julia, eine Frau im Alter meiner Gattin, die, obgleich sie das abstreiten würde, sehr auf ihr Äußeres bedacht ist. Sie ist Mutter einer Teenager-Tochter, immer gut gelaunt und nie auf den Mund gefallen. Oder auch den Quoten-Nazi, der eine Kneipe betreibt, die unsereins natürlich nicht aufsucht.

Als ich die Treppen nach oben gehe, denke ich erneut über die Frage meines Sohnes nach und formuliere im Kopf eine halbwegs verständliche Antwort: Ein Kiez ist ein fußläufiges Karree, in dem sich jeder individuell heimisch fühlt; wo man gewollt oder ungewollt mit Leuten Bekanntschaft schließt, deren einzige Gemeinsamkeit derselbe Wohnort ist – unabhängig von Beruf, Aussehen oder sozialer Stellung.  Offenbar gelingt das eher in Vierteln mit kleineren Mehrfamilienhäusern als in anonymen Hochhaussiedlungen, aber letzten Endes kommt es nur darauf an, sich regelmäßig an den alltagsbedingten Orten auf Augenhöhe zu begegnen und offen zu sein. Ihren Kiez nennen es die einen, ihre Heimat die anderen. So einfach ist das…