Abstand

von Dirk Ryssel

Was ist eigentlich so schwer daran, Abstand zu seinen Mitmenschen einzuhalten? Leben wir in Sardinenbüchsen und haben keine Ausweichmöglichkeiten? Müssen wir mit 100.000 anderen den letzten Zug in Kalkutta bekommen oder mit ebenso vielen um einen Liter Wasser für unsere Familie anstehen? Herrscht hier Versorgungsnot und müssen wir bereits hungern? Nein, no,  njet – nichts von alldem. Das einzige Problem, dass wir gesunde Männer momentan haben, ist die Nähe. Aber das haben wir ja angeblich schon immer.

Ich weiß, die Straßen sind trotz der Ausgangsbeschränkungen voll und die Supermarktgänge eng. Aber rasen wir in einer schmalen Straße auf ein entgegenkommendes Auto zu, wenn wir wissen, wir kommen nicht ohne hässliche Kratzer und Beulen an ihm vorbei? Offenbar ist uns unser Auto immer noch wichtiger als unsere Gesundheit. Denn auch zu Fuß insb. in den Schluchten der Einkaufshalle gibt es genügend Gründe, aufmerksam zu sein, und wenn es mal eng wird, anderen den Vortritt zu lassen. Man nennt das nonverbale Kommunikation, glaube ich. Im Autorverkehr ist sie unerlässlich, um unfallfrei ans Ziel zu kommen. Sie ist zudem komplett virenfrei – man muss sein Gegenüber nur wahrnehmen.

Bevor ich beim Einkaufen in einen Gang fahre, schätze ich zunächst ab, ob ich gefahrenlos an den anderen Personen vorbeikomme. Im Zweifelsfall gehe ich außenherum, um den gesuchten Artikel im Regal zu finden. Ich habe mich noch nie so sehr für Marmeladen, Deos oder Make-up interessiert wie momentan, muss ich doch ständig hektischen Kunden den Rücken zukehren, wenn sie mich beim Hetzen durch die Gänge beinahe streifen. Mit dem Effekt, dass mein Verweilen vor irgendwelchen irrelevanten Produkten auch noch ihr Interesse weckt: „Ach, sieh‘ mal, Wattepads …“ Mittlerweile drehe ich nämlich automatisch den Kopf in die entgegengesetzte Richtung, wenn jemand meinen Weg kreuzt. Die Folge ist, dass ich selbst beim abendlichen Willkommensgruß mit meiner Frau ihr den Hinterkopf hinhalte – das muss zurzeit reichen. Würde eigentlich Michael Jackson heutzutage noch als Hygiene-Neurotiker auffallen oder wäre er ein geradezu beispielhaftes Vorbild?

Wer am Wochenende ein bisschen Vitamin D tanken will, sollte besser auf dem Balkon bleiben oder vor die gute alte Höhensonne gehen – Bakterien- und Virengruften wie Solarien haben ja zum Glück geschlossen. Für alles andere kramt man – soweit vorhanden – besser die Neopren-Taucherausrüstung oder Opas alte Gasmaske hervor. Mit dem Vitamin-D-Aufladen wird es dann natürlich nichts. Ob im Naturschutzgebiet, wo sich normalerweise Reiher und Wildgans gute Nacht sagen oder im Forst – überall finden seit der Schließung der Cafés, Spiel- und Sportplätze Völkerwanderungen, Marathonlauf und Tour de France gleichzeitig statt. Und mögen die Fußgänger vielleicht noch in der Lage sein, die notwendige Distanz zu wahren, ahnt man spätestens, wenn man anhand eines vorbeihechelnden Joggers erraten kann, was er zum Mittagessen hatte, dass der Abstand zu klein war. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn die sportfanatischen Radler wie ihre Profikollegen beim Vorbeifahren auf den Weg spien.

Warum ist es für manche so schwer zu kapieren, dass man sich bei diesem Virus wie bei vielen anderen Infektionskrankheiten durch Tröpfchen ansteckt? Tröpfchen, also feuchte Aussprache. Speichel, Spucke, Rotze! Und die hat eine größere Reichweite als der Pinkelstrahl eines Mannes ohne Prostataleiden. Oder für meine jungen Leser: Weiter als eure Selfie-Stange! Auf jeden Fall länger als eine Armlänge! Vielleicht sollte man das Tragen eines Degens wieder erlauben: Mit dem könnte man die anderen auf Abstand halten. Rufe ich hier jetzt gerade zur allgemeinen Bewaffnung auf? Sorry, es reicht ja auch ein Plastiksäbel.

Was sagt eigentlich die AfD dazu? Die war doch immer gegen die Verschleierung… ich nebenbei auch…es sei denn, Männer müssten sie ebenfalls tragen… Ob die unter den aktuellen Umständen immer noch dagegen sind? Jetzt könnten sie doch in der potenziellen Mundschutzpflicht eine islamische Verschwörung vermuten… oder einen Maulkorb! Ups… lieber keine schlafenden Hunde wecken…die sind ja momentan noch mit sich selbst beschäftigt…