An Heiligabend muss ich vormittags noch einmal zum nahe gelegenen Supermarkt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass an diesem Tag die Stimmung bei Verkäufern und Kunden entspannter ist als in den Tagen und Wochen zuvor. Eigentlich hat man schon alles erledigt, die Geschenke und den Baum besorgt, die Notversorgung für die Feiertage ist weitestgehend organisiert, sodass man eher des Perfektionsanspruchs als des Versorgungsengpasses wegen unterwegs ist. Tendenziell trifft man deshalb auf Gleichgesinnte anstatt auf Gestresste, und die Verkäufer freuen sich, schon am frühen Nachmittag als kurz vor Mitternacht Feierabend zu haben.
Nicht so in diesem Jahr: Als ich gerade einen Einkaufswagen aus der Caddy-Schlange befreie und vorsichtig zurückrolle, damit ich nicht rechts und links gegen die Metallsäulen bollere, erfasst mich plötzlich ein fürchterlicher Schmerz im Fuß. Mir wird schwarz vor Augen. So muss sich Achill gefühlt haben, als ihm Paris mit einem Pfeil die namensgebende Sehne durchtrennte. Vorsichtig drehe ich mich um, damit ich den Angreifer identifizieren kann, entdecke aber hinter mir nur einen ca. 80-jährigen, störrisch aussehenden Mann mit seinem Einkaufswagen. Er starrt vor sich hin, als ob ich Luft wäre. Für eine Sekunde überlege ich, ob er vielleicht seine Attacke gar nicht bemerkt hat, aber dafür war wohl mein Schmerzensschrei zu laut. Ich starre ihn wütend an. Wenn Blicke tatsächlich töten könnten, wäre er längst atomisiert. Doch mein Möchtegern-Supermann-Röntgenblick führt eher zu autoaggressiven Synapsen in meinem Kopf als zu der erwünschten Einschüchterung meines Gegenübers. „ENTSCHULDIGUNG?!“, brülle ich ihn an, doch er schiebt geradezu stoisch seinen Wagen in die Schlange der Caddys und dreht mir den Rücken zu. Mein fassungsloses Kopfschütteln ignoriert er professionell.
„Ärgern Sie sich nicht“, kommentiert ein jüngerer Kunde im Vorbeigehen. „Solche Leute haben eine Freude daran, anderen den Tag zu verderben; sonst haben sie ja nichts. Diese Genugtuung dürfen wir ihnen nicht geben.“, rät er mir. Ich versuche es – es gelingt mir nicht. Für den Einkauf brauche ich glatte zwei Stunden, weil meine kognitiven Ströme momentan zu sehr mit exzessiven Folter- und Mordgelüsten an alten Opas beschäftigt sind.
Leider kein Einzelfall: In den Wiesbadener Kammerspielen weigern sich vier alte Wachteln die für uns reservierten Plätze wieder freizugeben. Gleiches passiert mir in der Bahn, wo ich meine Rechte nur mit dem herbeizitierten Zugbegleiter durchsetzen kann. Weniger erfolgreich ist meine Frau in der Pause des Schulkonzerts: Während sie sich trotz bereits schmerzender Blase in die Reihe der Wartenden diszipliniert einreiht, beobachtet sie die gerade noch vital umhereilende Oma eines Schülers, wie sie plötzlich gebückt an der Schlange vorbeischlurft und sich unauffällig nach ganz vorne vordrängelt. Gern geschehen! Nett, dass Sie gefragt haben.
Früher wollte ich es nicht glauben, wenn eine Kita-Bekannte uns erzählte, dass sie regelmäßig von einem Rentner geschlagen wird, wenn sie mit ihren zwei Kindern auf dem Fahrrad an ihm auf dem Gehweg vorbeifährt. Letzte Woche werde ich selbst von einem klapprig wirkenden Greis plötzlich angeblökt, als ich im Schritttempo mit meinen zwei schweren Einkaufstaschen an ihm vorbeirolle. Wäre er doch aus dem Fenster gestiegen, um einfach zu verschwinden, anstatt wie Methusalix mit seinem Gehstock zu pöbeln.
Um keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen: Ich mag alte Menschen. Ich mag sie wirklich! Im Grunde bin ich ja selbst schon alt: In den Augen einer 25-Jährigen bin ich fast scheintot. Man kann aus der Lebenserfahrung alter Menschen sehr viel lernen, sie sind lebende Geschichte(n). Bei meiner Großtante z.B. habe ich so viel Weisheit und Güte, so viel Sinn für Humor und Lebensfreude erlebt, dass sie mir näher war als mancher Freund oder andere Verwandte. Sie hatte aber fortwährend Kontakt mit jungen Leuten. Oder meine Eltern… okay, das ist ein schlechtes Beispiel… Aber ich verstehe das nicht: Alten Menschen, die eine Rente beziehen, geht es doch sowas von gut. Wir werden niemals mehr in den Genuss einer bedarfsdeckenden Rente kommen: Wer nicht privat vorgesorgt hat, wird zum Sozialfall werden.
Nun höre ich schon die empörten Rentner schimpfen: Wir haben ja schließlich dafür jahrelang eingezahlt! Irrtum! Es gibt keinen Fond, der über Jahrzehnte unangetastet bleibt und der einem im Ruhestand zur Verfügung gestellt wird. Es sind unsere Beiträge, von denen ihr lebt, so wie eure Eltern von euren Zahlungen profitiert haben. Solltet ihr daher nicht ein bisschen freundlicher zu uns sein? Habt ihr euch mal überlegt, was passierte, wenn nur die Hälfte aller Arbeitnehmer von heute auf morgen den Job kündigte, weil sie keine Lust mehr darauf hätte, die Kreuzfahrten und Sahnetorten von euch Weißhäuptern zu finanzieren? Die Rentenkassen wären sofort pleite. Genau das ist ja das Problem, das auf uns zukommen wird: Es wird einfach nicht mehr genügend Arbeitnehmer für die zukünftigen Rentner geben.
Anstatt also, warum auch immer, so verbittert zu sein, uns anzumeckern, euch vorzudrängeln oder sogar aufgrund des unausgesprochenen Agreements, dass man alte Menschen nicht schlägt, auch noch tätlich anzugreifen, solltet ihr uns lieber, ob es euch gefällt oder nicht, freundlich anlächeln, ab und zu betüddeln, uns stets den Vortritt lassen, denn entweder kommen wir von oder müssen zur Arbeit. Also von der Finanzierung eures Altersruhegeldes. Und daher hätte ich auch ehrlich gesagt nichts gegen einen gelegentlichen Kaffee oder Cappuccino einzuwenden. Wir mögen euch und lernen gerne von eurem Wissen. Wir können also beide voneinander profitieren. „Win-win“, sagt man heute, was in eurer Generation so viel wie „eine Hand wäscht die andere“ hieß. Nix Neues, also… Denkt daran: Die Natur ist viel brutaler – wir alle wissen, was mit dem Leitwolf geschieht, wenn er zu alt und zu schwach wird…