Natürliches

von Dirk Ryssel

Kürzlich saß ich im Urlaub in einem Café in Brixen und wollte mit meiner Gattin meinen nachmittäglichen Espresso genießen, als einen Tisch weiter eine ca. dreißigjährige, gut aussehende Frau mir ihre blanke Brust entgegenreckte. Nein, hier offenbarte sich nicht einer meiner intimen Wunschträume, denn kurz darauf dockte der gierige Saugnapf eines Neugeborenen an die ihm bekannte Öffnung an und genoss sein wohl schmeckendes Vesper. Bislang dachte ich immer, so etwas gäbe es nur in Berlin, aber die Globalisierung vereinheitlicht offenbar auch die Verhaltensgewohnheiten.

Als sich selbige Szene beim 70. Geburtstag meines Schwiegervaters wiederholte und ich meiner Nichte durch eine ungewollt missbilligende Gesichtsmimik zu verstehen gab, dass ich in diesem Kontext nicht wirklich von ihrer öffentlichen Raubtierfütterung begeistert sei, entgegnete sie mir selbstbewusst, dass das doch etwas ganz Natürliches sei. Meinen spontanen Gedanken, dass Wichsen auch etwas ganz Natürliches sei, ich es aber dennoch nicht am Esstisch eines Restaurants praktizierte, habe ich mir angesichts der feierlichen Stimmung verkniffen.

Ich weiß nicht, woher diese seit einigen Jahren erlebbare freizügige Auslebung der primären (und sekundären) Bedürfnisse kommt. Zugegeben, meine eigene Sozialisation nach der man nicht einmal auf der Straße etwas essen durfte, sondern sich dafür in ein Restaurant zu begeben hatte, erscheint hinsichtlich des in den letzten dreißig Jahren explodierten Fastfood- und Imbiss-Marktes ein wenig obsolet.

Doch neuerdings stinkt es auch außerhalb der Abteilung für französischen Weichkäse, den ich übrigens sehr schätze, des Öfteren nach verfaulten Eiern. Das zufriedene Gesicht des vor mir in der Schlange stehenden Kunden lässt in der Regel keine Zweifel, wer hier sein natürliches Bedürfnis befriedigt hat.  Dass mittlerweile jedes Parkgehölz, jeder frei zugängliche Hauseingang in Friedrichshain, jede S-Bahnunterführung von Männern wie Frauen mit ihrer Notdurft benässt wird, ja neulich erzählte mir ein Freund, dass er seine kleine Tochter gerade noch davon abhalten konnte, mit ihren zarten Fingern in die menschlichen Exkremente zu fassen, die irgendein Asi im Sandkasten des Spielplatzes hinterlassen hatte – daran hat man sich in Berlin ja längst gewöhnt. Schließlich kostet das Urinieren in den dafür vorgesehenen öffentlichen Aborten mindestens 50 Cent und Café-Besitzer rufen für Fremdpisser eine ähnliche Summe auf. Dafür gibt’s in der Kaufhalle ja schon ein Bärenpils – Saufen ist auch ein natürliches Bedürfnis, das man nicht so einfach abstellen kann.

Vorhin rotzte übrigens ein überholender Radfahrer seinen zähflüssigen Nasenschleim durch Zuhalten des anderen Kanals auf die Straße. Ich kann noch von Glück reden, dass er nicht die rechte Öffnung entleert hat, sonst müsste ich mir jetzt eine neue Hose kaufen. Wohin der mir momentan im Café gegenübersitzende Mann seine Popel hinschmiert und -schießt, möchte ich lieber nicht wissen, sonst gibt es ein weiteres Etablissement, das ich nicht mehr aufsuchen kann.

Nun kann man selbstverständlich einwenden, dass sich Pupsen, Popeln, Rotzen und Pissen nicht mit so etwas Heiligem wie Stillen vergleichen ließe. Das mag sein, aber genauso widersprüchlich ist es, dass der weibliche Busen qua Kontext mal erotisches Symbol und Sexualorgan, mal bloße Futterquelle ist. Wenn ein Mann einer Frau auf den Busen starrt, kann er zu Recht als Gaffer und Sexist beschimpft werden. Aber wenn sie sich ihrer gottgegebenen weiblichen Pracht direkt vor seinen Augen entblößt, sodass er nicht weiß, wohin er so schnell gucken soll, ist das plötzlich etwas ganz Natürliches?  Dabei konnotiert ja schon die Wortherkunft, dass das Stillen eines Kleinkindes eigentlich nichts ist, was man im öffentlichen Raum, sondern in stiller Zurückgezogenheit ausüben soll. Aber was verstehe ich Mann schon von der Aufzucht von Babys. Und wenn „Mann“ etwas dazu sagt, geschweige denn Kritik anbringt, wird er sogleich als verklemmt oder spießig verunglimpft.

Vor einigen Wochen besuchte ich einen Kumpel am Schlesischen Tor in Kreuzberg. Als ich den Hausflur betrat, stach mir ein penetrant säuerlicher Gestank in die Nase. Ich wollte sofort wieder rückwärts auf die Straße rennen, aber ich wurde ja erwartet. Also eilte ich durch den Korridor und vernahm im Augenwinkel die Quelle dieser raumumfassenden Verseuchung: Da hatte doch tatsächlich ein Penner seine heruntergeschlungene Pizza in einen abgestellten Kinderwagen gekotzt. Absolut widerlich und ohne Frage der falsche Ort und Zeitpunkt für seine Hinterlassenschaft, aber genau genommen auch etwas Natürliches …