Bärte

von Dirk Ryssel

 Als ich kürzlich in der Drogerie auf der Suche nach einer Frisiercreme war, staunte ich nicht schlecht: Ich fand ein ganzes Zweimeter-Regal voller Herren-Pflegeprodukte. Zugegeben, mir ist es nach wie vor peinlich insb. in meinem fortgeschrittenen Alter, irgendwelche Kosmetika abgesehen von Rasierwasser, Deo und Kernseife zu kaufen. Meist packe ich, wenn ich einen Haarschaum gegen den Gelbstich in meinem weißen Haar kaufe, noch zusätzlich ein paar Produkte für meine Frau in den Wagen. Und an der Kasse studiere ich dann ganz konzentriert den Einkaufszettel, damit es so aussieht, als ob ich sämtliche Schönheitsmittel nur für die Gattin und keineswegs für mich besorge. Doch meine Scham vor allzu auffälliger Eitelkeit scheint angesichts der Vielzahl von Hilfsmitteln für das Antlitz des modernen Gentleman vollkommen obsolet zu sein.

Vor allem die Bart-Optimierer erweckten meine Aufmerksamkeit: Ein einfacher Läusekamm reicht für den ganzjährigen Nikolaus nicht mehr aus. Da gibt es Bart-Shampoos und, damit das Zottelgeflecht um den Kussmund SIE nicht kitzelt, spezielle Bartöle und  Conditioner für mehr Volumen, Bartwichse für ausgefallene Skulpturen, Duftwässerchen, um den tranigen Geruch zu vertreiben sowie professionelles Trimmwerk für die individuelle und millimetergenaue Skalierung der Gesichtsbehaarung. Es gibt sogar teure Haarwuchsmittel mit Minoxidil für die dichte Beforstung der Backenlefzen. Das Absurde ist: Im selben Regal finden sich Fünfklingenrasierer und Enthaarungscremes zur vollständigen Entfernung des Körperfells.

Was ist das nur seit Jahren für ein seltsames Revival mit den Bärten? Von einer Handvoll gut verdienender Hipster als Relikt einer ehemals oppositionellen Haltung zum Establishment eingeführt, ist das einstige Hippie-Outfit längst zum Männlichkeitssymbol im gesellschaftlichen Mainstream geworden: Ob Autowerbung, ob Hollywood-Freizeitlook, ob Business-Outfit – der Bart ist der letzte Ausdruck herber Maskulinität jenseits der Diversitäts- und Gendereinheitlichkeit. Obwohl: Seit dem Eurovision Song Contest 2014 ist dank Conchita Wurst auch das nicht mehr sicher.

Auffällig ist, dass ausschließlich der gesichtsmaximierende Vollbart einen Hype erlebt: Die Rotzbremse zeigt sich nur noch als  zarter Schattenflaum, der mit pubertärem Stolz von stimmbrüchigen Heranwachsenden getragen wird, oder gehört wie die grünblaue Uniform zum obligatorischen Outfit deutscher Straßenförster. Während der sogenannte Arschloch-Bart, vormals Ikone des pfeifenrauchenden Mittelstandsvaters, in den 1990er Jahren einen Paradigmenwechsel zum coolen Gangster-Image erfuhr, blieb die Porno-Bürste unterhalb der Nase seit den Schmuddelfilmen der Seventies stets im Underground-Level verhaftet. Da brachten zaghafte Reboot-Versuche namhafter US-Künstler der Generation X ebenso wenig wie die Underdog-Reputation Sean Penns, der immer wieder ein Comeback des beidseitig angespitzten D’Artagnan-Moustache zu etablieren versucht.

Eigentlich besitzt nur der ausschließlich auf die Nasenbreite gestutzte Oberlippen-Bart einen noch schlechteren Nimbus als die gewöhnliche Walross-Zier: Der Charlie-Chaplin-Bart, der wie die Melone und der Spazierstock einst zum Ausdruck des würdevollen Tramps gehörte, erfuhr durch einen  untalentierten österreichischen Maler einen globalen Image-Wechsel, sodass ihn seit 1945 nur noch Karikaturen seinesgleichen tragen können und er dadurch zum ikonografischen Symbol  avancierte.

Es lebe daher der Gesichtsflokati: Der Mann von heute hat manikürte Fingernägel, geschliffene Fersen und entfernt am gesamten Körper die sprießenden Borsten, ziert sein jugendliches Outfit aber mit einem Rübezahl-Bewuchs. Der Vollbart kann nicht lang und voll genug sein, unabhängig davon, ob er unfreiwillig ins Mittagessen stippt, als Teppichfransen unter der Corona-Maske durchlugt oder in der Regel rot ist.