Angst

von Dirk Ryssel

Als die Discounter-Kette Aldi überraschend ankündigt, am nächsten Tag Desinfektionsmittel im Sortiment zu haben, sind die Parkplätze überfüllt und die Menschen stehen wieder Schlange wie in den 1990er Jahren, als die ersten Medion-Computer angeboten wurden. Ähnlich wie damals sind die Artikel binnen weniger Minuten ausverkauft, nachdem es zuvor zu Rangeleien und mehr oder weniger handgreiflichen Auseinandersetzungen kommt.

Dieses Ereignis wirft mehrere Fragen auf: Handelte es sich bei den Kunden um Ärzte und Klinikpersonal, denen zuvor die Desinfektionsmittel gestohlen wurden, oder wollen die Kunden damit ihre frisch geputzten Fahrzeuge sterilisieren, um sich hinterher bei Tempo 180 Km/h auf der Autobahn totzufahren? Ein kleiner statistischer Einwurf dazu: 2019 hatten wir in Deutschland mehr als 3.000 Verkehrstote. Das sind zwar gut 200 weniger als 2018, aber hat deshalb jemand auf sein Auto verzichtet oder vor dem Auto im Entferntesten eine solche Angst gehabt wie derzeit vor dem Corona-Virus?

Die zweite Frage, die sich mir aufdrängt, betrifft den Anbieter selbst: Woher hat Aldi plötzlich diese Paletten an Desinfektionsmittel her, wenn selbst Arztpraxen und Krankenhäuser kaum Nachschub bekommen? Hatten sie die Artikel etwa im Keller bebunkert und nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, diese anzubieten? Oder haben sie eine neue Quelle entdeckt, und wenn ja, warum bieten sie diese nicht zuerst den staatlichen Stellen an, die sie am dringendsten brauchen?

Wer die mediterrane Küche liebt wie ich, kann angesichts der derzeit leeren Nudelregale nur weinen. Ich dachte immer, wir seien das Land der Kartoffel? Wieso fressen die mir jetzt alle die Pasta weg? Oder horten sie zentnerweise im Keller?  Haben doch sonst auch immer nur Birkel- und Riesa-Nudeln gekauft, weil ihnen die italienischen Originale zwanzig Cent zu teuer waren! Nur die Ökos scheinen cool zu bleiben: Komischerweise gibt es noch jede Menge Bio-Vollkornnudeln. Sogar von der Hausmarke.

Und keinem ist momentan eine Magen-Darm-Grippe oder der Noro-Virus (ja, den gibt es auch noch!) zu wünschen, wenn er nicht auf die Marke „Goldfinger“ steht. In welcher Relation wohl Nudeln und Toilettenpapier stehen, ist mir ein Rätsel. Eine Kollegin meiner Frau rief am Montagnachmittag vom Büro aus ihren Mann an und bat ihn energisch, mindestens fünf Packungen (à acht Rollen) Klopapier zu kaufen. Okay, sie hat eine fünfköpfige Familie, aber gibt es irgendeinen Lieferstopp von sämtlichen Hygieneartikeln und Lebensmitteln?

Ein Gemeinschaftskrankenhaus in Berlin-Spandau hat gestern eine psychologische Betreuungsabteilung für Coronavirus-Angstpatienten gestartet. Auslöser war wohl eine Frau, die eine Panikattacke hatte, weil sie meinte, bereits infiziert zu sein. Patienten sollen die Möglichkeit bekommen, mit Psychologen über ihre Sorgen und Ängste zu sprechen, damit die Notfallambulanz ein bisschen entlastet wird und die wirklich lebensgefährlichen Fälle behandeln kann.

Ich will solche Ängste keinesfalls belächeln: Vor ein paar Jahren hatte ich nach zwei Kreislaufzusammenbrüchen und der Erkenntnis, dass mein Herz ab und zu ein paar Doppelschläge macht, ähnliche Panikattacken, weil ich Angst hatte, zum Pflegefall zu werden oder zu sterben. Erst mehrere ärztliche Untersuchungen und vor allem ein kognitives Training, welches mir bewusst machte, dass sich meine Ängste vor allem auf ein vorgestelltes Szenario, also auf meine eigene Fantasie und nicht auf die gegenwärtige Situation bezogen, konnten meine Emotionen beruhigen. Man kann niemand verurteilen, wenn er von sich und seiner Familie und/oder seinen Freunden Gefahr abwenden will. Doch Angst ist eine diffuse Emotion, die sich niemals auf ein unmittelbares, konkretes Ereignis bezieht,  sondern auf eine subjektive Vorstellung über die persönliche Zukunft. Sie ist deshalb auch kein guter Ratgeber. Im Gegenteil: Ängste blockieren die Ratio und lassen uns unvernünftig handeln. Ängste sind das, was ich im letzten Sommer auf einem T-Shirt gelesen habe: „Kopf-Ficken“.

Ich selbst bin Asthmatiker. Eigentlich hätte ich allen Grund, mich von meiner Angst dominieren zu lassen, weil ich Risiko-Patient bin. Aber ginge es mir besser, wenn ich hysterisch würde und das Bett nicht mehr verließe, aus Angst, mich irgendwo anzustecken? Würde ich mich besser fühlen, wenn ich aus Sicherheitsgründen meine Familie ausquartierte, weil Mutter und Sohn als Nutzer der öffentlichen Verkehrsmittel und Räume potenzielle Ansteckungsherde sind?

Hamsterkäufe von Lebens- und Desinfektionsmitteln sollen nur die Ängste besänftigen, die unser Bewusstsein terrorisieren und ihm vorwerfen untätig zu sein. Aber letztlich bleibt man dadurch nur fremdbestimmt und ein Sklave seiner Gedanken wie auf dem oben beschriebenen T-Shirt. Jedes Schaf, jede Gazelle ist rationaler als wir; oder wer hat schon einmal ein Schaf davonrennen sehen, weil es sich vorstellte, der Wolf könne in der folgenden Nacht vorbeikommen?

In der Dramaturgie eines Films geht es darum, den Helden so tief in eine persönliche Krise zu drängen, dass er sein wahres Gesicht zeigt und am Ende über sich hinauswächst. Ob wir Deutschen durch die Corona-Krise über uns hinauswachsen werden, wird man sicher erst in ein paar Jahren beurteilen können; das Gesicht, das wir in der derzeitigen Situation zeigen, ist allerdings ziemlich hässlich!