Welchen Impuls ein guter Freund auf die Laufrichtung des eigenen Lebens ausgeübt hat, wird einem meistens erst dann klar, wenn er nicht mehr da ist.
Er war voller Tatendrang und Energie. Er riss andere, wenn sie sich darauf einließen, mit und sorgte dafür, dass sie aus sich herausgingen. Er konnte eine Party von einem auf den anderen Moment sprengen, die Regie an sich reißen und die Gäste ungefragt zu seinem Publikum machen. Manche liebten, manche verachteten ihn dafür. Meist die, die selbst gerne im Mittelpunkt gestanden hätten. Er hatte so viele Talente und Fähigkeiten, dass diese ihn oft überforderten und er sich stattdessen lieber kindischen Computerspielen hingab, um danach völlig geplättet ins Bett zu wanken oder seinen Frust mit sehr viel Bier und Wein herunterzuspülen.
Er hatte einen so brillanten Geist, erfasste und analysierte Situationen und Menschen in einer Geschwindigkeit, die geradezu beängstigend war. Vor ihm konnte man sich nicht verstellen, egal, was man ihm vorzuspielen versuchte, man hatte immer das Gefühl, nackt vor ihm zu stehen. Leider machte dieser scharfe Verstand auch nicht vor seiner Selbstreflexion halt, was ihn mitunter tagelang im Bett verweilen ließ. Um dann im nächsten Moment singend durch die Wohnung zu hetzen und auf der Straße, vor der Apothekerin oder sogar unter wildfremden Menschen eine Tanz- und Stand-up-Comedy-Performance einzulegen. Er konnte, wenn er in Stimmung war, das Jammen der Gitarristen auf einem Rockkonzert mit einer dreißigminütigen Gesangs-Impro begleiten. Und das sogar ziemlich gut.
Er war ein Ästhet, legte Wert auf schöne Sachen und ließ sich regelmäßig von seiner Mutter neu einkleiden. Er war wahrscheinlich der erste und einzige Theaterwissenschaftler, der Original-Tod’s-Mokassins trug. Allerdings hätte er niemals ein Hemd gebügelt, und sein Kleiderschrank sah immer aus, als ob eine Bombe darin explodiert wäre. Ich denke, er liebte und brauchte das kreative Chaos: Sein Zimmer wirkte gerade so, als ob er kürzlich etwas Wichtiges gesucht habe. Der Ausspruch „Ordnung ist etwas für Dumme“ wurde mir nirgends so klar verdeutlicht wie innerhalb seiner vier Wände. Überall fanden sich Highlights seines kreativen, aber unorganisierten Geistes. Formelle Vorgaben und Kontinuität hat er stets als Belastung und Druck empfunden, dem er sich nicht beugen wollte. Sein Wille und sein Anspruch, etwas Großartiges zu kreieren, korrespondierten nicht mit der Disziplin und Notwendigkeit zur Selbstausbeutung. Dieses Manko hat ihn oft frustriert und sich minderwertig fühlen lassen. Irgendetwas in ihm drin hat ihn klein gemacht und von Selbstzweifeln aufgefressen.
Er hat mich gelehrt, dass Homophilie nicht mit Homosexualität gleichzusetzen ist. Dass man für einen Freund durchaus Liebe und Eifersucht empfinden kann, ohne schwul zu sein. Er hat mich gedrängt, meine heutige Frau anzusprechen, obwohl er unbewusst spürte, dass er damit das Ende unserer Wohngemeinschaft und engen Verbundenheit auslöste. Ja, er war, wie er mir erst vor wenigen Wochen gestand, später so sehr eifersüchtig auf meine Frau, dass er bewusst einen Streit zwischen uns und den zeitweiligen Bruch unserer Freundschaft provozierte.
Er konnte sehr liebevoll zu seinen Freunden und Bekannten sein, aber auch beleidigend, arrogant und unnahbar wirken. Er war ein leidenschaftlicher Mensch, scheute nicht vor einer spontanen Umarmung oder einem Kuss, liebte Frauen und Männer, diese allerdings nur platonisch, und brauchte immer und immer wieder deren aller Bestätigung. Sie war für ihn die Lebensenergie, die seinen Motor auf Hochtouren hielt und zu Höchstleistungen antrieb. Noch bei unserem letzten Treffen, als er schon die Chemo-Therapie begonnen hatte, präsentierte er mir aufs Neue das ganze Spektrum seines kreativen und emotionalen Potenzials.
Nun sind seine Akkus leider endgültig aufgebraucht: Am 6. Februar ist Markus B. alias Konrad im Alter von 52. Jahren an Lungenkrebs verstorben. Ich werde ihn sehr vermissen.