Vorletzte Woche bin ich bei ihm gewesen. Es war ein sonniger Frühlingstag, die Sonne schien angenehm warm, die Vögel zwitscherten und so wie vier Wochen zuvor hörte ich das aufgeregte Schreien der Händler vom Wochenmarkt, das nur durch eine vorbeisausende S-Bahn unterbrochen wurde. Aber für einen Platz in der Innenstadt Berlins ist es angenehm ruhig hier.

Jemand hatte Tulpen mitgebracht, gelbe, die in einer Vase neben dem kleinen, frisch eingepflanzten Kiefernbäumchen standen. An der anderen Ecke lag ein Urlaubsfoto, auf dem er in Badehose am Strand posierte. Ich erkannte ihn nicht sofort, weil er einen kleinen Hut trug, aber sein schelmisches Schmunzeln war unverkennbar. Sein Vater hatte Recht: Dies ist ein schöner Friedhof. Ein kleines Idyll am Puls des Lebens. Ich versuchte, ein paar Worte mit ihm zu sprechen, so wie man es in amerikanischen Filmen sieht, doch es gelang mir nicht. Mein Kopf war leer, und ich fand es lächerlich, mit seinem Grab zu reden. Vor allem stellte ich mich vor, wie er darüber lachen würde: „Das ist Kunst!“, hätte er sicher gespottet. Weiter lesen

Freizeitkleidung

von Dirk Ryssel

Kürzlich fuhren wir mit der Straßenbahn in Richtung Naturkundemuseum. Unser Sohn hatte Kinder-Besuch, und das ist immer der erste Wunsch nach der Tobewelt und dem Jump House. An der Station Mauerpark stieg eine Gruppe von ca. 8-10 gut gelaunten Männern kurz vor dem früheren Renteneintrittsalter, also Ende 50, Anfang 60, ein. Ich vermutete einen Betriebsausflug der Alten-Leipziger-Versicherung aus Oberursel. Alle hatten schon den einen oder anderen halben Liter gepichelt, was man nicht nur roch, sondern auch anhand der Lautstärke vermuten konnte, in der sie in ihrem breiten südwest-deutschen Dialekt durch die Tram quakten. Permanent wurde über irgendetwas gewiehert, was in mir immer den Lokalpatriotismus entfacht. Weiter lesen

Emanzipation

von Dirk Ryssel

Kürzlich habe ich einen Film mit Hugh Grant gesehen, in dem er einen ehemals erfolgreichen Drehbuchautor spielte, der aus finanziellen Gründen einen Dozenten-Job in der Provinz annehmen muss. Als er bei einem Willkommensempfang von einer Kollegin auf die emanzipatorische Wirkung der Jane-Austen-Romane angesprochen wird, platzt dem inzwischen ziemlich angetrunkenen Neuling der Kragen: „Die Emanzipation geht mir auf den Sack!“, blafft er sie an und provoziert damit einen Skandal im Kollegium, zumal er sich mit seiner schlechten Laune auch im Folgenden nicht zurückhält.

Ich musste laut lachen und erntete dafür einen bösen Blick meiner Frau. Irgendwie konnte ich den Protagonisten gut verstehen, mich in seine Lage hineinversetzen. Er arbeitet in einer Branche, in der ihm von jungen Produzentinnen vorgeschrieben wird, was er wie zu schreiben habe. Ihm von eben jenen Austraggeberinnen nahe gelegt wird, über wen und welche Themen er erzählen solle, um wieder Erfolg zu haben: Nämlich über Supergirls und Super-Power-Actionfrauen. Weiter lesen

Billige Klamotten

von Dirk Ryssel

Ich gehe in einen Klamotten-Discounter am Alex. Die reine Neugierde hat mich gepackt, weil ich ständig junge Menschen in diesen Shop stürmen sehe. Ich lasse mich von ungefähr drei Dutzend 19-Jährigen auf die Rolltreppe schieben und erhasche so einen Blick über die Auslagen. Ich bin erstaunt: Im Erdgeschoss gibt es Hosen für 10 Euro, Schuhe für 23 Euro und Sweatshirts für sage und schreibe 2,50 Euro. Toll, denke ich, für gut 35 Euro neu eingekleidet!

Oben angekommen nehme ich sogleich wieder die Rolltreppe nach unten: Tatsächlich finde ich ein Paar fetzige Schuhe mit weißer Sohle für 18 Euro. Ich probiere sie an. Sie passen. Beim Bezahlen an der Kasse frage ich, ob ich sie gleich anziehen darf. Ohne eine Miene zu verziehen, entfernt die Kassiererin die Preisschilder und überreicht mir die Schuhe. Weiter nach Klamotten zu schauen, scheint mir ob des Gewusels von ca. 10.000 Kunden und des damit einhergehenden Lärmpegels unmöglich. Allein der Gang zur Rolltreppe abwärts, die natürlich auf der gegenüberliegenden Seite ist, gleicht einem Überlebenskampf. Hoffentlich gibt es hier niemals einen Brand, denke ich. Menschen im Kaufrausch. Weiter lesen

Mein Freund Markus B.

von Dirk Ryssel

Welchen Impuls ein guter Freund auf die Laufrichtung des eigenen Lebens ausgeübt hat, wird einem meistens erst dann klar, wenn er nicht mehr da ist.

Er war voller Tatendrang und Energie. Er riss andere, wenn sie sich darauf einließen, mit und sorgte dafür, dass sie aus sich herausgingen. Er konnte eine Party von einem auf den anderen Moment sprengen, die Regie an sich reißen und die Gäste ungefragt zu seinem Publikum machen. Manche liebten, manche verachteten ihn dafür. Meist die, die selbst gerne im Mittelpunkt gestanden hätten. Er hatte so viele Talente und Fähigkeiten, dass diese ihn oft überforderten und er sich stattdessen lieber kindischen Computerspielen hingab, um danach völlig geplättet ins Bett zu wanken oder seinen Frust mit sehr viel Bier und Wein herunterzuspülen. Weiter lesen

Ich sitze in einem kleinen Café in Prenzlauer Berg. Das Mobiliar scheint direkt vom Sperrmüll zu kommen – kein Stuhl, kein Tisch gleicht dem anderen. In die Sitzpolster haben sicher etliche DDR-Genossen ihre Biogase entweichen lassen. Vielleicht sind auch noch genetische Spuren früherer Blockwarte oder Gruppensturmführer nachzuweisen. Beim Versuch, mich irgendwie bequem in dem altersschwachen Sessel zu platzieren, wackelt mein vorderes Stuhlbein gefährlich. Ich beschließe, mich möglichst wenig zu bewegen. Anderen Gästen geht es nicht viel anders: Ich entdecke eine bekannte Kino-und Fernsehschauspielerin meines Jahrgangs, die sich arg verrenken muss, um mit ihrem Freund knutschen zu können, ohne dass der Stuhl zusammenbricht. Sie unterbrechen ihren Zungentango, um die Stabilität der Lehne zu überprüfen. Der Stuhl ist tatsächlich für solche Akrobatik ungeeignet, weshalb sich die Schauspielerin auf den Schoß ihres Partners setzt und mit der Oralfütterung fortfährt. Weiter lesen

Schuhe in der Wohnung

von Dirk Ryssel

Neuerdings bin ich etwas verunsichert, wenn ich jemanden im Westen, also, im Westteil der Stadt oder in den alten Bundesländern besuche: Schuhe aus oder Schuhe an, wenn man die Schwelle zur Wohnung übertritt? Im Osten gibt es eine klare Konvention: Schuhe aus. Im Westen kommt es darauf an, ob diejenigen kleine Kinder haben oder nicht. Haben sie welche, zieht man natürlich die Schuhe unaufgefordert aus – am besten noch vor der Wohnungs- oder Haustür. Haben sie keinen Nachwuchs, behält man die Galoschen solange an, bis man aufgefordert wird, sie auszuziehen. Im Osten hingegen wird das Schuhwerk generell ausgezogen. Fragt man im Westen den Gastgeber, ob man die Schuhe ausziehen soll, wird man verunsichert angestarrt. Weiter lesen

Frauenquote

von Dirk Ryssel

Dank der Me-Too-Debatte und der mit ihr eng verwobenen Filmbranche wird nun endlich Tabula rasa gemacht. Rechtzeitig haben wir bei uns einen vermeintlichen Filmmogul gefunden, der ebenfalls so einige Leichen in seinem Casting-Keller zu haben scheint. Er macht zwar nicht annähernd so gute Filme wie sein unfreiwilliges Alter Ego aus Kalifornien, aber Hauptsache die deutsche Filmbranche kann sich in irgendeiner Hinsicht mit Hollywood vergleichen. Woraus zu schließen ist: Die ganze Produzenten-Mischpoke ist doch weltweit vom gleichen Schlag! Sie haben ihren Beruf nur gewählt, einzig und allein, um kleine, talentierte KünstlerInnen ins Bett zu kriegen. So sind wir Männer nun mal – allesamt Schweine! Das haben einst schon „Die Ärzte“ gesungen und sich später darüber geärgert, dass ausgerechnet dieser Song zur Ballermann-Hymne wurde.

Weiter lesen

Freunde

von Dirk Ryssel

Als ich kürzlich bei Facebook nach einem ehemaligen Kollegen, mit dem ich mich gerne vernetzen wollte, suchte, musste ich feststellen, dass dieser bereits 464 Freunde hatte. Ehrlich gesagt habe ich mich angesichts dieser hohen Zahl nicht getraut, ihm zu schreiben. Seine Notwendigkeit, mich als seinen 465. Freund zu rekrutieren, erschien mir verhältnismäßig gering. Ich selbst habe mich innerhalb der letzten drei Monate immerhin zu 15 Freunden empor gearbeitet. Doch wenn ich tief in mich gehe, muss ich zugeben, dass ich höchstens auf 3-4 wirklich enge Freunde komme. Diese sind mir allerdings wichtig, weil sie mich zum Teil mein halbes Leben und länger begleiten, mich geprägt, kritisiert, unterstützt und nicht selten aufgefangen haben. Oftmals weiß ich gar nicht, wie ich das, was ich alles von ihnen empfangen habe, jemals wieder zurückgeben kann. Wenn ich meinem 10-jährigen Sohn nur einen einzigen Rat geben könnte, für den ich ihm allerdings keinen Bauplan mitliefern kann, lautete er:  Versuche möglichst frühzeitig, Freunde zu finden, die dich durch die Höhen und möglichen Tiefen des Lebens begleiten werden. Weiter lesen

Freundlichkeit

von Dirk Ryssel

Diesen Monat habe ich den Roman „Wunder“ von Raquel J. Palacio gelesen. Für Diejenigen, die das soeben verfilmte Buch nicht kennen sollten: Es geht darin um einen 12-jährigen Jungen, der von seinen Mitschülern gemobbt wird, weil sein Gesicht durch einen angeborenen Gen-Defekt deformiert ist. Als er sich am Ende des Schuljahrs den Respekt der gesamten Schule erworben hat, hält der Schulleiter eine gefühlvolle Rede, in der er an die Maxime der Freundlichkeit appelliert und jeden Schüler bittet, in Zukunft „freundlicher als notwendig“ zu sein. Ein Leitspruch, dem ich mich selbst verpflichtet sehe und den ich gerne an meinen Sohn weitergebe.
Oder sollte ich besser sagen, weitergäbe? In Wien, Paris oder London mag man mit Freundlichkeit sicher überwiegend reüssieren – im rauen Berlin ist das so eine Sache… Weiter lesen

Raucher

von Dirk Ryssel

Kürzlich bekomme ich ein Paket von meiner Mutter: Obgleich schon 81 Jahre alt liest sie nach wie vor alles nur quer, und dann erhalte ich von ihr sämtliche Artikel, die sie als wichtig erachtet. Mit verhaltener Vorfreude schneide ich daher das Päckchen auf, und sogleich überwältigt mich eine komprimierte Wolke aus kaltem Zigarettenrauch, die sich ausbreitet wie ein Atompilz über dem Mururoa-Atoll.  Meine Mutter ist Kettenraucherin.
Weiter lesen

Weihnachten mit der Mutter

von Dirk Ryssel

Ich nahm mir vor, es hinzubekommen, nichts persönlich zu nehmen, mich nicht provozieren zu lassen und es nicht zu einem Streit kommen zu lassen. Es könnte vielleicht ihr letztes Weihnachten sein: Seit einem Jahr hat sie die Diagnose Darmkrebs, und nur sie selbst weiß, wie schlimm es ist. Wir, ihre Söhne und der Rest der Familie, wissen nicht, wie wir die Ernsthaftigkeit der Situation einschätzen sollen, zu oft wurden wir in den letzten 40 Jahren mit ihren vermeintlichen Krankheiten manipuliert, gar emotional missbraucht: In unserer ängstlichen Vorstellung ist sie schon hunderte Male gestorben. Weiter lesen

Galaktische Orgasmen

von Dirk Ryssel

Kürzlich sehen ich und meine Frau einen völlig harmlosen und ebenso langatmigen amerikanischen Spielfilm mit Bradley Cooper und Emma Stone im Fernsehen. Während ich gerade herrlich am wegdösen bin, wird die Handlung unterbrochen, und die Werbung beginnt. Gleich im ersten Spot wird für ein Kondom geworben, das mit seinem „Intense Gel“ für „galaktische Orgasmen“ bei der Frau sorgen soll.
Ich bin wieder hell wach. Meine Frau auch! Was haben wir da eben gesehen? Ein Kondom, das ihr galaktische Orgasmen beschert? Das wird sofort auf den Einkaufszettel notiert!
Weiter lesen

Holen

von Dirk Ryssel

Hurra, der Kommunismus hat doch gesiegt!

Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass man seit einigen Jahren nichts mehr kaufen muss? Von allen Seiten der Werbung dröhnt es auf einen ein: „Hol dir den neuen LED Flat-Screen Fernseher von LG mit 139 cm Bildschirmdiagonale und 4K UHD Empfang!“ Oder: „Hol dir das neue SAMSUNG Galaxy S8 Smartphone, mit 64 GB, 5.8 Zoll Display in Midnight Black!“
Von Kaufen redet keiner mehr, offenbar ist das unschick.
Weiter lesen

Haarausfall

von Dirk Ryssel

Kann mir eigentlich irgendjemand den Sinn von Haarausfall erklären? Wozu gibt es Haarausfall? Was hat sich die Natur, der liebe Gott oder wen auch immer wir dafür verantwortlich machen wollen, dabei gedacht? Wachsen durch die ausfallenden Haare wieder neue Haarbäume, an denen sich junge Leute bedienen können, um ihre Haarpracht zum Erleuchten und damit das Weibchen oder Männchen in Verzückung zu bringen? Oder wandelt sich das verwesende Kopfhorn wenigstens in wertvollen Humus, aus dem neue fruchtbare Fauna und Flora erwächst?
Weiter lesen